Meine liebe gute Annie ! 1.3.45
Wie Du schon aus der kuriosen Überschrift siehst, schein ich
auch schon etwas durchgedreht zu sein. Aber es ist auch so vieles, was in den
vergangenen Tagen auf mich eingewirkt hat, daß man es eigentlich schon mit
Recht sein könnte. Aber ich will versuchen, alles wieder schön der Reihe nach
zu ordnen. Ich konnte Dir in meinem letzten Brief aus Hamburg von dem
Weitergang der Dinge berichten. Ich war nun bei den Leuten noch zum Mittagessen
geblieben, zu dem ich freundlich eingeladen war, dann hatte ich den Brief an
Dich im Wehrmachtsbetreuungsheim geschrieben. Als dann meine Zeit gekommen war,
ging ich zum Zuge. Dort fiel ich zuerst einmal auf, weil ich über die Zeit dort
in Hamburg geblieben war. Als ich dem Feldwebel sagte, daß ich meine
„Verwandten in Hamburg“ noch aufgesucht hätte, zeigte er schon etwas mehr
Verständnis für die Dinge, doch ließ er sich noch mein Soldbuch geben. Ich muß
fast feststellen, daß mir diesmal die Auszeichnungen aus der Patsche geholfen
haben, denn ausgerechnet dieses Seite blätterte er auf und reichte es mir
zurück mit dem Bemerken, daß ich mich nur auf den Weg machen und nicht
erwischen lassen solle. Ich habe mich dann auch schnurstracks auf den Zug
geschwungen und ließ mich nach Wittenberge führen, dort hatte ich erst gegen
morgen Anschluß nach Stendal. In Stendal habe ich dann erst einmal wieder
Marschverpflegung gefaßt, denn ich mußte ja auf meinen Schein unbedingt wieder
einen Nachweis über meinen Aufenthalt haben.
Gleich Nachmittag konnte ich mich dann Richtung Magdeburg in Marsch
setzen. Dort klappte es gleich mit einem Anschluß über Dessau nach Leipzig. Die
Fahrt ging verhältnismäßig gut vonstatten. Mit nicht allzu großer Verspätung
kamen wir hier an. Zwar konnten wir nur bis Widerizsch (?) fahren, denn der
Hauptbahnhof ist im Moment noch nicht befahrbar. Also hieß es laufen bis zur
Stadt. Ich bin aber schon unterwegs abgebogen.
In der Ferne sah man wohl einzelnen Feuerschein, aber das war ja
schließlich zu erwarten, wenn ein Angriff über die Stadt gegangen war. Ich kam
dann links gleich beim Rathaus heraus und mußte gleich feststellen, daß das
Rathaus abgebrannt war. Auch der
Bahndamm hatte etwas abbekommen. Ich glaubte aber immer noch, daß das Haus von Papa
verschont worden sei. Aber ich sah dann schon Papa vor dem brennenden Haus
Wache stehen. Ich kann Dir sagen, daß ich schon etwas erschüttert war, als ich
diesen Mann so vor der Brandruine stehen sah. Das Wiedersehen hatte ich mir
auch anders vorgestellt, und man weiß heute noch nicht, was uns allen noch
beschieden ist, bis der Krieg zuende gegangen ist. Ich mache mir vor allem
Sorge um Euch, weil ich hier erst aus der Zeitung und dann von Erna höre, daß
auch einige Orte am Bodensee angegriffen worden wären. Nun hoffe ich, daß Ihr
nicht davon betroffen worden seid. Der Gedanke und die Ungewißheit quälen mich.
Als ich nach Mockau kam glaubte ich, daß Post von Dir angekommen wäre, aber
leider hat sich diese Hoffnung zerschlagen. Ja, als ich dann mit Papa sprach,
konnte er mir nun sagen, daß seine Wohnung noch hergerichtet werden könne. Ich
habe mir dann alles angesehen. Ich war dann doch einigermaßen etwas beruhigt.
Dein Vater war dann etwas verärgert, in einem solchen Falle nun nicht mehr zur
Erna zu können, zunichte gemacht worden ist. Ich habe mich dann bereit erklärt,
mit Erna zu sprechen. Ich habe mich dann später verabschiedet und habe den
Marsch in die Stadt angetreten. Ich mußte Erna aus dem Bett klingeln. Sie hat
mich wieder freundlich empfangen, und ich muß nur immer wieder sagen, daß ich
lieber hierher gehe als in die Mockauerstraße, weil ich die Leidensmiene von
Lotte auf die Dauer nicht sehen kann. Sie war gestern auch wieder ganz fertig,
aber das ist ja bei ihr keine Ausnahme. Ich habe dann mit Erna gesprochen, und
sie stand einer Aufnahme für eine Übergangszeit von Papa und Lotte nicht
ablehnend gegenüber. Wir wollen nun nachher nach Mockau, um nach dem Rechten zu
sehen. Ich nehme an, daß dort alles soweit wieder eingeräumt sein wird. Aber
die Beiden sollen sich erst einmal von dem Schrecken erholen, und dann können
sie ja wieder dorthin ziehen. Das wäre
die gegenwärtige Lage. Ich will mich nun morgen früh in der Kaserne melden,
denn dieses freie Leben muß wieder einmal aufgesteckt werden. Die kleine Ursula
macht hier einen mächtigen Umtrieb. Nachdem ich mich nun schon mit ihr fest
unterhalten habe, klammert sie sich fest an mich. Alles wird nun vorgemacht und
vieles gibt es zu erzählen. Sie ist aber auch wirklich ein liebes Kind, das
sich ganz gut führt. Die Michel´sche Art kommt manchmal in ihrem Temperament
zum Durchbruch. In ihrem Gesicht hat sie aber etwas, was an die Bilder von Dir
früher erinnert, also so die Art Deiner Mutter. Ihre Puppe Ingrid nimmt einen
großen Lebensraum bei ihr ein. Auch ihr Kafter, das eigentlich Kasper heißen
soll, ist eine richtige Persönlichkeit. Sie hat nun vorher gleich ihr Signum
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