Donnerstag, 19. März 2020

Brief 619 vom 1.3.1945


Meine liebe gute Annie !                                                                                                    1.3.45        

Wie Du schon aus der kuriosen Überschrift siehst, schein ich auch schon etwas durchgedreht zu sein. Aber es ist auch so vieles, was in den vergangenen Tagen auf mich eingewirkt hat, daß man es eigentlich schon mit Recht sein könnte. Aber ich will versuchen, alles wieder schön der Reihe nach zu ordnen. Ich konnte Dir in meinem letzten Brief aus Hamburg von dem Weitergang der Dinge berichten. Ich war nun bei den Leuten noch zum Mittagessen geblieben, zu dem ich freundlich eingeladen war, dann hatte ich den Brief an Dich im Wehrmachtsbetreuungsheim geschrieben. Als dann meine Zeit gekommen war, ging ich zum Zuge. Dort fiel ich zuerst einmal auf, weil ich über die Zeit dort in Hamburg geblieben war. Als ich dem Feldwebel sagte, daß ich meine „Verwandten in Hamburg“ noch aufgesucht hätte, zeigte er schon etwas mehr Verständnis für die Dinge, doch ließ er sich noch mein Soldbuch geben. Ich muß fast feststellen, daß mir diesmal die Auszeichnungen aus der Patsche geholfen haben, denn ausgerechnet dieses Seite blätterte er auf und reichte es mir zurück mit dem Bemerken, daß ich mich nur auf den Weg machen und nicht erwischen lassen solle. Ich habe mich dann auch schnurstracks auf den Zug geschwungen und ließ mich nach Wittenberge führen, dort hatte ich erst gegen morgen Anschluß nach Stendal. In Stendal habe ich dann erst einmal wieder Marschverpflegung gefaßt, denn ich mußte ja auf meinen Schein unbedingt wieder einen Nachweis über meinen Aufenthalt haben.  Gleich Nachmittag konnte ich mich dann Richtung Magdeburg in Marsch setzen. Dort klappte es gleich mit einem Anschluß über Dessau nach Leipzig. Die Fahrt ging verhältnismäßig gut vonstatten. Mit nicht allzu großer Verspätung kamen wir hier an. Zwar konnten wir nur bis Widerizsch (?) fahren, denn der Hauptbahnhof ist im Moment noch nicht befahrbar. Also hieß es laufen bis zur Stadt. Ich bin aber schon unterwegs abgebogen.  In der Ferne sah man wohl einzelnen Feuerschein, aber das war ja schließlich zu erwarten, wenn ein Angriff über die Stadt gegangen war. Ich kam dann links gleich beim Rathaus heraus und mußte gleich feststellen, daß das Rathaus abgebrannt war.  Auch der Bahndamm hatte etwas abbekommen. Ich glaubte aber immer noch, daß das Haus von Papa verschont worden sei. Aber ich sah dann schon Papa vor dem brennenden Haus Wache stehen. Ich kann Dir sagen, daß ich schon etwas erschüttert war, als ich diesen Mann so vor der Brandruine stehen sah. Das Wiedersehen hatte ich mir auch anders vorgestellt, und man weiß heute noch nicht, was uns allen noch beschieden ist, bis der Krieg zuende gegangen ist. Ich mache mir vor allem Sorge um Euch, weil ich hier erst aus der Zeitung und dann von Erna höre, daß auch einige Orte am Bodensee angegriffen worden wären. Nun hoffe ich, daß Ihr nicht davon betroffen worden seid. Der Gedanke und die Ungewißheit quälen mich. Als ich nach Mockau kam glaubte ich, daß Post von Dir angekommen wäre, aber leider hat sich diese Hoffnung zerschlagen. Ja, als ich dann mit Papa sprach, konnte er mir nun sagen, daß seine Wohnung noch hergerichtet werden könne. Ich habe mir dann alles angesehen. Ich war dann doch einigermaßen etwas beruhigt. Dein Vater war dann etwas verärgert, in einem solchen Falle nun nicht mehr zur Erna zu können, zunichte gemacht worden ist. Ich habe mich dann bereit erklärt, mit Erna zu sprechen. Ich habe mich dann später verabschiedet und habe den Marsch in die Stadt angetreten. Ich mußte Erna aus dem Bett klingeln. Sie hat mich wieder freundlich empfangen, und ich muß nur immer wieder sagen, daß ich lieber hierher gehe als in die Mockauerstraße, weil ich die Leidensmiene von Lotte auf die Dauer nicht sehen kann. Sie war gestern auch wieder ganz fertig, aber das ist ja bei ihr keine Ausnahme. Ich habe dann mit Erna gesprochen, und sie stand einer Aufnahme für eine Übergangszeit von Papa und Lotte nicht ablehnend gegenüber. Wir wollen nun nachher nach Mockau, um nach dem Rechten zu sehen. Ich nehme an, daß dort alles soweit wieder eingeräumt sein wird. Aber die Beiden sollen sich erst einmal von dem Schrecken erholen, und dann können sie ja  wieder dorthin ziehen. Das wäre die gegenwärtige Lage. Ich will mich nun morgen früh in der Kaserne melden, denn dieses freie Leben muß wieder einmal aufgesteckt werden. Die kleine Ursula macht hier einen mächtigen Umtrieb. Nachdem ich mich nun schon mit ihr fest unterhalten habe, klammert sie sich fest an mich. Alles wird nun vorgemacht und vieles gibt es zu erzählen. Sie ist aber auch wirklich ein liebes Kind, das sich ganz gut führt. Die Michel´sche Art kommt manchmal in ihrem Temperament zum Durchbruch. In ihrem Gesicht hat sie aber etwas, was an die Bilder von Dir früher erinnert, also so die Art Deiner Mutter. Ihre Puppe Ingrid nimmt einen großen Lebensraum bei ihr ein. Auch ihr Kafter, das eigentlich Kasper heißen soll, ist eine richtige Persönlichkeit. Sie hat nun vorher gleich ihr Signum

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