Donnerstag, 19. März 2020

Brief 615 vom 13.1.1945


Meine liebe gute Annie !                                                                                             13.1.45

 Wenn meine Gedanken auch wie immer bei Euch weilen, so weiß ich doch nicht, wie viel zu schreiben ich heute in der Lage bin. Zeit hätte ich ja, aber ich bin äußerst abgespannt Seit achtundvierzig Stunden habe ich nur mit ganz wenige Unterbrechung gewacht. An Schlafen kann ich gegenwärtig nicht so denken, wie man es gern möchte. Es kann sich wahrscheinlich noch einige Tage so hinziehen. Die Gedanken kann man dann doch nicht so sammeln, aber Du sollst immer wieder sehen, daß ich an Euch denke und daß ich Euch nicht vergesse. Diese Schreiben sind nun einmal der sichtbare Beweis dafür. Ich weiß, daß es Dir wohl nicht erst eines besonderen Beweises bedarf. Es handelt sich ja auch nicht darum, sonder mir sind diese wenigen Minuten, die ich mich zum Schreiben hinsetze und manchmal aus Zeitmangel zwinge, die Minuten der Erholung aus dem hiesigen Erleben. Da kann ich meine Gedanken zusammenfassen und besonders mit bestimmter Zielsetzung nach hause wandern lassen.  Schreibe ich nicht, dann werde ich durch dies oder jenes abgelenkt. Das kann aber so nicht eintreten. Das ist eben unsere Aufgabe, wach und munter zu bleiben. Ich schlafe tatsächlich nur noch wie ein Tier. Wenn ich nicht gerade im ersten Schlaf bin, den ich so für die erste Stunde rechne, da höre ich jeden, der kommt und jedes Geräusch. Daß das keine Ruhe ist, das ist wohl ganz klar. Aber immerhin bin ich nach ganz kurzer Ruhezeit fast vollkommen frisch. Man wundert sich, wie schnell man unter gegebenen Umständen ausgeruht ist. Zwar muß man damit rechnen, daß das bei nächstbester Gelegenheit nachgeholt wird. In dieser Situation gibt es nun Kameraden, die fressen eine Zigarette nach der anderen. Das ist mir kein Bedürfnis bis jetzt. Denen hilft es, aber ich habe das noch nicht nötig. Ich hoffe auch, daß das nicht einmal notwendig sein wird.  Das ist recht, daß die Kinder die Ferien täglich zum Ausschlafen benutzen. Wenn dann die Schule mit ihrem geregelten Betrieb angeht, dann steckt ihnen doch bald die Müdigkeit wieder in den Knochen.  Das Wetter ist bei uns wieder milder geworden. Nur stellenweise ist der Fluß aufgebrochen. Doch zum größten Teil trägt das Eis noch. Wenn wir Glück haben, dann wird der Winter nicht allzu streng. Aber trotz allem heißt es hier Obachtgeben. Lasse mich jetzt bitte schließen. Ich grüße Dich und die Kinder recht herzlich und viele Küsse für ich wieder bei. Ich bin stets 

Dein Ernst.

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