Donnerstag, 19. März 2020

Brief 617 vom 16.1.1945


Mein liebstes Mädel !                                                                                       16.1.45   

Die Post hat mich gestern wieder einmal nicht bedacht. Außer von Deinem Vater, der mir einige Briefumschläge und Briefpapier sandte, erhielt ich keine Post. Man kannja schließlich auch nicht verlangen, daß jeden Tag etwas eingeht.  aber das läßt sich nun nicht verheimlichen, daß der Empfang liebe Zeilen doch eine recht angenehme Abwechslung in unserem Alltag ist. Dafür hatte ich eben vorgestern gleich drei Briefe von Dir. Als ich sie mir noch einmal durchlas, da mußte ich im Stillen für mich lachen, als unser Mädel den Anspruch erhebt, schneidig auszusehen. Sie ist ja einmal ein kleines Äffle, das zwar schon mächtig in die Länge geschossen ist. Das sind eben die Sorgen der Kinder, wenn sie größer werden. Aber das gute Mutterherz hat es doch nicht überwinden können und hat gleich die Windjacke geopfert, damit das Mädel schneidig aussieht. Daß unser Herr Sohn nicht nachziehen will, das kann ich mir ohne weiteres denken, denn gerade so ein neues Stück , vor allem, wenn es modern und schnittig aussieht, dann reizt das. Wie ich aus dem letzten Brief von Dir lesen kann, hast du doch den Radioapparat irgendwo untergebracht. Daß das keine Kleinigkeit ist, ihn jetzt gemacht zu bekommen, das ist ja ohne weiteres erklärlich. Aber ich hatte Dir ja schon gesagt, daß Du eben etwas unternehmen mußt, damit Du zu Deinem Ziel kommst. Es ist ja ein Einrichtungsstück geworden, das man heute fast nicht mehr entbehren kann. Hoffentlich hast Du Glück und erhältst ihn bald wieder zurück.  Seit gestern ist das Wetter hier sehr winterlich geworden. Es hat lange geschneit, und alles ist schön mit Schnee überzogen. Nur in den Gräben macht da wenig Spaß, denn der Wind hat sie uns zum Teil recht verweht. Da heißt es schaufeln, damit sie nicht ganz zugeschneit werden. Dann muß man ja auch damit rechnen, daß das alles taut, und dann haben wir die Schweinerei im Graben. Zur Nacht hin hatte es aufgeklart. Es war eine herrliche Sternennacht, und der Morgen hatte eine Klarheit, wie ich sie selten erlebt habe. Der Himmel blau und dazu überall der frische Schnee. Es war ein Anblick, der recht friedlich anmutete, doch die raue Wirklichkeit läßt sich nun einmal nicht hinwegtäuschen.  Heute jährt sich zum zweiten Mal der Tag, an dem unser lieber Kurt sein Leben in diesem grausamen Kriege opferte. Wie oft, muß ich an ihn denken.  Was hatte er nicht für Pläne, wenn der Krieg vorbei ist. Das ist nun alles zunichte geworden. Man könnte wohl manchmal sagen, daß ihm manches, was sich bisher ereignet hat, erspart geblieben ist, aber das hätte er auch so ausgehalten, wie ich es auch durchhalte. Wenn man nach dem Sinn des Sterbens sucht, dann könnte man sich manchmal sagen, daß für das, was bis jetzt erreicht worden ist, die Opfer zu groß sind.  Es ist ja nicht nur unser Kurt; die Zahl ist wohl ins Ungeheuerliche gestiegen, wenn man gleichzeitig noch die Opfer durch Terrorangriffe denkt. Man kann dann höchstens wieder einen Sinn darin sehen, wenn man sich sagt, daß diese Opfer gerechtfertigt werden müssen durch ein siegreiches Beenden dieses Krieges. Wenn ich den Brief von Nannie lese, dann muß ich immer wieder, wie auch in den vorhergehenden, feststellen, daß sie mächtig darunter leidet, daß dieser arme Junge draußen geblieben ist.  Niemand kann sich um das Grab kümmern. Wahrscheinlich wird alles dem Verfall preisgegeben sein. Das Andenken an ihn kann man bewahren und hegen. Daß wir ihn nicht vergessen, das versteht sich ja von selbst. An einem solchen Tag, da ist das Gedenken besonders stark.  Recht herzlich grüße ich Dich und die Kinder. Bleibt Ihr mir nur gesund und grüßt auch Vater wieder von mir. Ich lasse für die neuen Jahreswünsche bestens danken. Dir und den Kinder gebe ich jedem einen herzlichen und kräftigen Kuß und bin  wie immer 

Dein Ernst.

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