Donnerstag, 19. März 2020

Brief 609 vom 2.1.1945


Du liebstes Mädel, meine liebe Annie !                                                                           2.1.45    

Ein Tag rinnt zum anderen, ohne daß sich bei uns Änderungen ergeben würden. Das Neue Jahr hat seinen Anfang genommen, von ihm erhoffen wir uns viel, doch dürfen wir nicht wieder in den Fehler verfallen und unsere Erwartungen zu hoch schieben. Im vergangenen Jahr haben wir bittere Lehren dafür hinnehmen müssen. Hoffen wir, daß sie uns in diesem Jahr erspart bleiben. Wenn ich schreibe, daß sich keine Änderungen von Bedeutung ergeben. so muß ich immer daran denken, als wir vom gegenüberliegenden Ufer hier herüberwechselten. Ich weiß zwar nicht mehr genau, ob ich Dir damals davon schrieb, aber als wir durch den Fluß marschiert waren, glaubten wir erst, daß wir nicht allzu lange in dieser Stellung uns aufhalten würden. Den russischen Druck hatten wir ja kennen gelernt, und es war ja zu erwarten, daß der Gegner sich zu neuem Stoß sammeln würde. Wir waren darauf vorbereitet, wenigstens innerlich, und rechneten damit, daß wir uns in dieser Stellung in Kürze verteidigen müßten. Daß dieser Stoß nicht lange auf sich warten ließe, war die allgemein herrschende Ansicht. Daß wir nun noch nach bald vier Monaten an der gleichen Stelle stehen, ist wohl nicht unser Verdienst, denn wir haben ja bisher nur gewartet, aber man kann es wohl als ein Erstärken  unserer Kräfte werten. Nach dem Verrat vom Juli und dem Zusammenbruch der Front im Westen und der Mittelfront im Osten trat im Herbst eine Stabilisierung und damit Normalisierung der Lage ein. Wir waren um jeden Tag froh, den wir hier bleiben konnten. Wenn auch eine ruhige Stellung nach außen hin ruhig erscheint, so hat sie doch vieles (eine Art und Weise in sich, was der Außenstehende nicht sieht noch merkt. Das ständige Wach und Bereitsein, das dauernde Warten und Spannen und immer in Erwartung, was der Gegner wohl tun wird, das zehrt an den Nerven, und doch sind wir froh, daß der Zustand noch so ist, wie er vor Monaten auch schon herrschte. Gewiß, an anderen Fronten ist es inzwischen erheblich zurückgegangen, so daß unsere Grenzen in Gefahr stehen und zum Teil sind sie wohl überschritten. Doch eines war uns während dieser Monate möglich, neue Kraft zu sammeln und aufzustellen, neue Waffen zu schaffen, die dem Gegner sicherlich noch mancherlei Schwierigkeiten bereiten werden. Eines war mir zwar schon von außen her fühlbar, daß es die Waffe, die Maschine allein nicht tun kann. Entscheidend hierbei ist wohl, wer sie führt und wie sie geführt wird. Dies ist mir im Laufe der vergangenen Monate eindringlich vor Augen gekommen und ich glaube auch, daß es mir noch nie so verständlich und klar war, wie zur Zeit. Ich glaube nicht, daß ich mich zu den Feiglingen zählen muß, aber ich bin von Natur aus ein Zweifler und muß den dingen erst auf den Grund gehen, ehe ich alles das glauben kann, was mir erzählt wird. Solche Sachen müssen erst wachsen. Es spielt zwar manches andere eine sehr wichtige Rolle hierbei, aber das zu erläutern würde wohl hier zu weit führen. Freuen wir uns, daß wir nicht nur innen, sondern auch nach außen hin wieder so erstarkt sind, daß wir mit großem Vertrauen wieder in die Zukunft blicken können. Nun habe ich Dir wieder allerhand vorgeklönt, das Die wohl selbst alles schon bekannt ist, aber nun steht es schon einmal hier und nun geht es auch mit weg.  Ja, ich habe sonst nichts weiter zu berichten, denn ich habe keine Post von Dir erhalten. Ein Päckchen schicke ich heute an Dich wieder ab, es trägt die Nummer eins und enthält einige Bonbons und Zigarren. 50,RM habe ich auch wieder abgesandt, denn was soll ich mit dem vielen Geld bei mir? Den Eingang der anderen Beträge wirst Du mir ja bestätigen, sofern sie inzwischen eingegangen sind. Mein Kalender ist ja nun auch vollgeschrieben. Ich stehe nun ohne da. Wahrscheinlich wirst Du sowieso keine bekommen, aber eins wird sich wohl machen lassen, daß Du mir einen Kalender aus früheren Jahren schickst, dann ist mir auch geholfen. Wahrscheinlich schreibe ich noch an Siegfried, damit ich mit meiner Post aufs Laufende komme.  Heute Nacht oder morgen werden wir uns wieder einmal verziehen. Ich schrieb Dir ja schon davon.  Bleibt mir gesund und laßt Euch recht herzlich grüßen. Viele liebe und innige Küsse füge ich für Euch bei. Ich bin in Gedanken immer bei Euch. 

Dein Ernst.

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