Mittwoch, 3. Januar 2018

Brief 358 vom 22.12.1942


Mein liebster Schatz, liebe Annie !                                              22.12.42     

In einem meiner letzten Briefe kam ich schon einmal darauf zu sprechen, daß nun mit dem Heranrücken der Weihnachtstage auch das Jahresende ganz bedeutend näher kommt. Was liegt dann im Zeichen dieses Abschlusstages näher, als wieder einmal mit den Gedanken zu spielen und in den Erinnerungen herumzukramen. Man denkt an die verschiedenen Neujahrstage der früheren Jahre und dann läßt man es kurz, so von hier ein Stück und dort ein Stück das Jahr vorüberziehen.  Aus der Vergangenheit möchte ich drei Jahresschlussabende hervorheben. Der eine ist aus der Zeit, als ich noch mit unseren Jungens unterwegs war. Das zweite Neujahr, an das ich mich erinnere, verlebte ich mit Dir im Erzgebirge und vom dritten, von dem ich erzählen möchte, ist das letzte Zusammensein gewesen, das wir gemeinsam an Silvester begehen konnten. Als wir früher noch zünftig auf Fahrt gingen, da beschlossen wir, eine Jahresschlussfeier draußen in unserem alten verfallenen Steinbruch zu begehen. Schon Anfang Dezember wurde dieser Plan gefasst. Das war für uns eine abgemachte Sache. Fritz und ich fuhren am 1.  Weihnachtsfeiertag nochmals hinaus an die uns aus dem Sommer so gut bekannte Stätte, um sicher zu gehen, daß wir auch eine Unterkunft bekamen. Es war gerade kurz vor Weihnachten ziemlich Schnee gefallen und gefroren hatte es auch. Es war schon schön während dieser Erinnerungsfahrt, aber ab und zu steigt mir besonders die Fahrt in der Erinnerung herauf, von der ich reden will. Wir hatten unsere Jungens fast alle beieinander. Der Widerstand der Älteren war ziemlich groß, aber zuletzt hatten wir diesen doch überwunden. Tilly, der nun nicht mehr unter uns weilt und in fremder Erde liegt, befand sich auch dabei. Bei einem Gastwirt hatten wir einen Holzspeicher als Quartier bekommen. Mit dem letzten Zug fuhren wir nach Beucha hinüber. Es hatte zwischen Weihnachten und Neujahr nochmals geschneit. Scharfe Kälte war eingetreten. Unseren Wimpel hatten wir bei uns. Jeder den „Affen“ auf dem Buckel. Ein schneidender Nordwind blies uns entgegen. Wir waren stolz auf unsere kleine Gefolgschaft, Ohne jeden Zwang, einzig allein um unserer Gemeinschaft willen, waren wir hinausgezogen, um diesen Tag in unserem Sinne und nach Geschmack zu feiern. Über die nächtlichen, verschneiten Felder stapften wir uns den wohlvertrauten Weg. Am Beuchaer Steinbruch begegneten wir einem kleinen Trupp Jungens, die anscheinend das gleiche im Sinn führten wie wir. Durch den Wald und über Gräben ging unser Weg weiter. Der Mond schien fahl und versteckte sich immer wieder hinter Wolken. Es war nicht schwierig für uns, dorthin zu finden, denn wie oft hatten wir ihn schon im Sommer beschritten. Im alten, verlassenen Steinbruch angekommen, ließen wir unser Häuflein zurück, weil keiner Wasser für den Tee, den wir uns kochen wollten, holen wollte. Fritz und ich übernahmen dieses Geschäft.  Das Wasser war uns bei der scharfen Kälte im Wassersack gefroren, obwohl wir es uns kochendheiß geben ließen. Ein kleines Feuer brachten wir zustande und freuten uns der Gemeinschaft. Nach Mitternacht marschierten wir in unser Quartier. Es war hart und kalt noch dazu, denn wir waren wohl schon manche Übernachtung vom Sommer her gewohnt, aber solche Kälte hatten wir in dieser Form, vor allem in dieser mangelhaften Ausrüstung, Wir waren aber jung und überstanden dies sehr gut. Der folgende Neujahrsmorgen fand uns bald wieder draußen im Freien, denn die Sonne schien so wunderbar. Im Steinbruch hingen die Eiszapfen. Die Sonne spiegelte sich auf der Eisfläche und die Eiszapfen glitzerten, das war so eine Lust. Du weißt ja selbst, daß wir immer wieder auf diese Fahrt zu sprechen kamen, wenn wir einmal zusammen waren. Es ist auch eine schöne Zeit gewesen, für mich und ich glaube auch für Dich, denn Du hast sie ja mit erlebt. Wenn auch nicht direkt, so doch durch mich.
Darum habe ich dies heute auch mit meinen Gedanken herausbeschworen, weil es mit zu unseren gemeinsamen Erinnerungen gehört.  Wenn ich mich nicht täusche, so habe ich früher schon einmal unser gemeinsames Erlebnis in der Erinnerung wachgerufen. Wenn es nicht im letzten Jahre aus dem gleichen Anlass war, so sprachen wir aber im letzten Urlaub darüber. Es war nach dem letzten Weihnachtsfest, das wir zusammen in Leipzig verbrachten. Wir hatten die Stadt überdrüssig und wollten etwas vom Winter erleben. Was lag darum näher, als die wenigen Feiertag zu wählen, die sich zum Jahresende boten. Wir wollten bei dieser Gelegenheit in Grüheinichen den Freund Bauer besuchen. Was wir planten, setzten wir in die Tat um. Am Sonntag besuchten wir Bauer. Der war etwas bestürzt, als er uns auftauchen sah und komplimentierte uns auch hinaus. Wir gingen nach Lengenfeld hinüber. Unser Zug wischte uns gerade vor der Nase weg. Was blieb und weiter übrig, als bis zur nächsten Station zu laufen, um nicht die Zeit nutzlos auf dem Bahnhof zu verbringen. Doch weder in Tschöpau  noch im folgenden Ort bekamen wir einen Zug zu sehen. Nach unseren Berechnungen mußten wir in der übernächsten Station einen Zug erreichen. Das Glück stand uns doch noch bei und wir konnten mit dem dort eintreffenden Zug bis nach Hammer unter Wiesental fahren.  Es war bald Mitternacht. Keine Hotelzimmer in der Wintersporthochsaison zu erhalten. Wie arme Handwerksburschen nächtigten wir auf dem Bahnhof und gegen früh verschafften wir uns in einer kleinen Fremdenpension ein billiges Frühstück. Treu und gottesfürchtig setzten wir zu unserer geplanten Winterwanderung, zwar ohne Ski, an. Die Grenze überschritten wir wohl mit Bewusstsein, doch da sich niemand zeigte, schritten wir unentwegt weiter. Am Mittag des Silvestertages kehrten wir in Platen ein und aßen dort gut zu Mittag.
Bei unserer Ankunft in Georgenstadt hatten wir bald Gelegenheit, die Jahreswende in Gewahrsam zu verbringen.  Da wir die Sache mit dem nötigen Humor aufnahmen und wahrscheinlich auch mit Rücksicht darauf, daß Neujahr bevorstand, lief alles noch glücklich ab.  Anmerkung: Sie wurden von Zöllnern gestellt, weil sie die Grenze einfach so überschritten hatten Mitternacht verbrachten wir dann in Zwickau, wo ich fast noch in eine Schlägerei verwickelt worden wäre. Am Neujahrsmorgen waren wir schon wieder daheim. An die verschiedenen Einzelheiten erinnerst Du Dich wohl selbst noch genau, wie ich auch.  Das dritte Mal, wenn ich in diesem Zusammenhang von der Jahreswende spreche, berührt die Feier, als wir in eines Abschiedsstimmung waren. Wir konnten den zweiten Urlaub, den ich vom Militär bekam, in Freude begehen. Denn wir hatte erst nicht damit gerechnet und dann konnte ich verschiedene Sachen mitbringen, die uns das Fest unbeschwert in Bezug auf die Ernährung und Ausgestaltung feiern ließen. Am Silvesterabend hatten wir uns die Kerzen am Baum nochmals angezündet, damit wir an diesem Abend unsere Gedanken rückblickend auf das vergangene Jahr sammeln konnten. Vater war gekommen. Die Kinder waren bei uns und wir beide freuten uns, daß wir nochmals zusammensitzen konnten. Wenn es auch der letzte Urlaubstag war, so freuten wir uns des gemeinsamen Erlebnisses und der gemeinschaftlich verbrachten Tage. Abgesehen von dem Missklang, der sich durch unseren Jungen einstellte und den ich ihm gewisslich hiermit nicht nachtragen will, kam in all die Freude der vergangenen Tage etwas Wehmut im Hinblick auf die neue bevorstehende Trennung zur Geltung. Ich war aber im Stillen so froh, daß ich an diesem Tage noch bei Dir sein konnte, denn ich weiß, wie ungern man zu solchen Stunden allein ist. Das geht ja nicht nur Dir so, Du weißt, daß ich auch nicht vor solchen Stimmungen gefeit bin. Wir hörten uns noch die Radioübertragungen an und beim Wechsel des Jahres tranken wir einen gemeinsamen Schluck. Man wusste, daß man sich hatte und daß man tatsächlich beieinander ist. Wir hofften, daß wir das folgende Jahr in Ruhe verbringen könnten. Doch daraus wurde nicht, denn das vergangene wie das gegenwärtige müssen wir fern von einander verbringen. Aus all den vorher beschriebenen Feiern geht nun eine Gedankenverbindung hervor, daß wir immer „unsere Feiern“ so gestaltet haben, daß sie unserem Empfinden entsprachen und darum haben sie auch unseren Stil. Nichts Trennendes sondern das Verbindende war unser Stil. Das ist auch das, was ich mit all meinen anderen Worten ausdrücken wollte. Ob mir das so gelungen ist, wie ich das gern gewollt habe, das kann ich nicht sagen, denn das kannst Du vielleicht besser beurteilen.  Wie ich aber schon andeutete, kramt man nicht nur in der früheren Zeit herum, sondern das vergangene Jahr sollte man auf die verschiedenen Ereignisse hin beleuchten. Gleich nach Eintritt des Neuen Jahres musste ich Dir eine wenig erfreuliche Mitteilung machen, und zwar die, daß ich aus meiner Stellung als Beamter entlassen und wieder zur Truppe zurückversetzt werde. Ich sparte mir diese Offenbarung auf bis zu meinem Urlaub, damit ich Dir das mit passenden Worten sagen konnte, weil sich das viel besser machen läßt wie das Schreiben.  Da sind wir auch schon beim Urlaub. Ich kam in den ersten Märztagen heim. Die Sonne zeigte schon die Kraft ihrer ersten Strahlen.  Wir freuten uns der Gemeinsamkeit und der schönen Tage. Wir stapften im Schnee auf den Tabor und über die Wiesen hinweg. Wie oft sind wir auch diese Wege in Friedenszeiten gegangen. Alles war wie früher. Wir waren froh und glücklich, daß wir zusammen waren, denn es war alles so ungewiß, wie sich das Schicksal für mich weiter gestalten würde. Es kam die Reise wieder nach (?), anschließend meine Fahrt nach Marburg, wo ich den Bescheid erhielt, daß ich in meiner Eigenschaft als Kriegsverwaltungsbeamter nach dem Osten versetzt werde. Das war sehr überraschend. Bitter war, daß ich ohne Euch nochmals aufzusuchen, gleich nach Russland weiter geschickt wurde. Ich benutzte meine Reise durch Mitteldeutschland zu einem kurzen Aufenthalt in Leipzig, lernte die Verhältnisse kennen, die sich etwas zugespitzt hatten. Obwohl es in mancher Hinsicht eine Klärung gab, so waren sie noch nicht ganz eindeutig. Durch unser Nachgeben, das nur aus einer Nachsicht nicht aber durch unsere Billigung dieser Dinge zustande kam, ist wieder etwas Ruhe in diese Angelegenheit gekommen. Dein Vater hat sie nun geheiratet, womit eigentlich dieses Ereignis abgeschlossen ist.  Ich habe hier verschiedenes im Osten kennen gelernt. Kam erst über Krementschug nach Mirgorod.  War erst tief unglücklich über diese Veränderung. Fand aber doch immerhin angenehme Kameradschaft und vor allem, was von mir angenehm empfunden wurde, verständnisvolle Vorgesetzte. Das hat mich in verschiedener Hinsicht mit der Versetzung ausgesöhnt.  Aber bald erfolgte in zweierlei Hinsicht eine Veränderung. Mein damaliger Chef wurde ausgewechselt und gleich darauf kam die Verlegung unserer Kommandantur. Die Kolonnenfahrt mit unserem Geleitzug durch die Ukraine hatte am Anfang den Reiz der Neuheit.  Man verliert an diesen Dingen aber bald den Geschmack, weil man dieses Leben doch nicht so gewohnt ist. Wir haben schließlich alles ohne Schwierigkeiten überstanden. Kamen auch ohne größere Zwischenfälle an unserem Bestimmungsort an, der uns vor eine völligveränderte Lage stellte. Wir haben uns ihr anzupassen versucht, was uns auch teilweise ganz gut gelungen ist. Aber schon kurz nach meiner Eingewöhnung erreichte mich ein neuer Befehl, der mich ganz ohne mein Zutun in einigermaßen geordnete Verhältnisse zurückführen sollte. Es gab wieder eine Trennung aus einer Kameradengemeinschaft. Eine freundliche Übernahme in der neuen Umgebung erleichterte mir das Einleben in Charkow. Ich bekam wieder eine ganz anders geartete Tätigkeit. Aber schließlich findet man sich überall hinein, wenn man Lust dazu hat, und wenn man die nötige Unterstützung findet. Die Krönung für uns war aber wieder der plötzlich gewährte Urlaub. Die Fahrt nach hause war mit einer Spannung verbunden, weil Ihr keine Ahnung von meinem Eintreffen hattet. Die Tage haben wir für uns genutzt. Wir haben Gartenarbeiten zusammen eingeleitet und zum Teil abgeschlossen. Wir sind baden gegangen, haben uns einmal auf unseren gemeinsamen Ausflugsort, dem Haldenhof, begeben. Das Kino haben wir verschiedentlich besucht und sonst darüber gefreut, daß wir wieder einmal beieinander waren. So sind auch diese Tage vergangen. Wir haben sie zusammen in der Gewissheit verbracht, daß wir nun in den gegenwärtigen Feiertagen nicht zusammen sein können. Wenn man sich auch damit abgefunden hat, so ist es doch nicht leicht, Euch jetzt allein daheim zu wissen. Doch wir wollen uns das Herz nicht schwer machen, denn für uns ist doch immer noch entscheidend, daß wir bis jetzt immer noch gesund sind. Wir wollen uns dies für die Zukunft auch wünschen und hoffen, daß dieser Wunsch auch eine Erfüllung findet.  Seid Ihr meine Lieben versichert, daß ich in Gedanken bei Euch bin. Wahrscheinlich werdet Ihr nicht einmal lang munter bleiben. Aber wie es auch kommt, ich denke an Euch, wie Ihr in Gedanken bei mir sein werdet.  Lasse Du Dir, mein liebes Mädel, recht frohe Tage im Neuen Jahr bringen und bleibe mir recht gesund. Für die Kinder wünsche ich das gleiche. Ich verbinde damit aber auch gleichzeitig den Wunsch, daß sie Dir brav folgen und Dir keine Sorgen machen. Daß sie in der Schule weiterhin ihre Schuldigkeit tun, davon bin ich ohne Ermahnung überzeugt. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn sie an die bisherigen Erfolge in der Schule noch weitere heften würden. Ich verlange von ihnen nicht mehr als sie können. Aber das, was sie können, das sollen sie auch leisten. Denn wenn sie das nicht tun, dann neigen sie zur Faulheit, und das kann man in heutiger Zeit nicht brauchen. Wir brauchen ganze Menschen, die ihre Pflicht und Schuldigkeit tun und dazu wollen wir sie erziehen.  Lasse Du Dir einen lieben Neujahrskuss geben und sei versichert, daß ich immer in Gedanken bei Euch bin, wie ich wieder bei Euch sein werde, wenn einmal ruhigere Zeiten eintreten werden.  Hoffen wir darum, daß wir diesem Ziel im kommenden Jahr ein gewaltiges Stück näherkommen. Wir wollen trotz allen Fährnissen nicht kleinmütig werden. Das waren wir noch nie und wir werden es auch nicht so gleich werden. Darum nochmals viele, viele liebe Grüße und herzliche Küsse sendet Dir und den Kindern mit einem Glück für das Neue Jahr, den besten Wünschen , in getreuem Gedenken Dein Ernst.
Meine künstlerischen Ergüsse sind mir etwas danebengeraten. Aber nimm sie so hin, wie sie sind aber auch so wie sie gemeint sind.

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