Sonntag, 18. Juni 2017

Brief 280 vom 16./17.6.1942


Meine liebe Annie !                                                 16.6.42  

Mit der Post bekam ich heute die Zeitungen vom 2. und 3., dann noch von der SA eine Zeitung. Das war alles. Briefe werden hoffentlich morgen mitkommen. Daß Du die Zeitungen für den nächsten Monat nicht mehr bestellen brauchst, hatte ich Dir schon mitgeteilt. Bis ich diese Zeitungen bekomme, ist ja doch schon alles lang überholt. Wenn ich ab und zu „Da s Reich“ bekomme und von Dir immer wieder einmal eine Konstanzer Zeitung, dann genügt das vollkommen. Ich weiß ja, daß Du das gern gemacht hast, aber weshalb soll man eine unnütze Sache machen? Wegen meiner Anstellung habe ich mir nochmals alles überlegt. Ich brauche, um alles durcharbeiten zu können, folgende Sachen: Anstellungsschreiben der Stadt Konstanz, Schreiben der Stadt, ob ich die Absicht habe, als Beamter in städtische Dienste zu treten, Prüfungsergebnis bei der Schule. Die dazu notwendigen Unterlagen, auf die in den einzelnen Schreiben hingewiesen ist, würde ich auch noch benötigen. Ich muß aber wieder etwas unternehmen, damit nicht alles ganz und gar zum Stillstand kommt. Ob ich etwas erreichen werde, steht ja noch nicht fest, aber ich will wenigstens tun, was notwendig ist und was sich machen läßt. Du hast zwar viel Arbeit mit der ganzen Sache, ich muß Dich aber schon darum bitten, daß Du mir das erledigst, denn wenn ich alles hier hätte, würde ich mir das alles selbst machen.  Immer wieder, wenn ich zum Fenster meines Dienstzimmers hinaussehe, kommen Flüchtlinge, die aus den Kampfgebieten verschickt wurden. Es ist einfach nicht zu schildern, welches Elend das ist mit diesen Menschen. Ich frage mich nur manchmal, wo die Leute die Räder zu ihren Wagen her haben.  Sehr oft sind es Räder, die von zerschossenen Panzerwagen abgebaut worden sind. Die haben etwas Gummibereifung und amit holpern sie über die Landstraße. Straßen, die bei Regenwetter fast unergründlich sind. Dies habe ich Dir schon oft geschildert. Manche haben einen „besseren“ Wagen. Der hat eine Plane, unter welcher die Kinder sitzen können, wenn es regnet. Kinder, die etwa 6/7 Jahre alt sind, die müssen schon alles laufen. Größere müssen mit schieben helfen. Viele haben nicht einmal das, sondern sie tragen die kleinen Kinder auf dem Arm. Ich frage mich, wie es so einer Frau möglich ist, stundenlang ihr Kind auf dem Arm zu tragen.  Wenn es regnet, steckt man das Kind mit unter die Jacke und dann wird weiter getrottet. Wieder andere Erwachsene, die nicht mit Kindern belastet sind, haben ihr ganzes Hab und Gut in zwei Säcken untergebracht, die sie durch die Gegend schleppen. Alles läuft grundsätzlich barfuß, denn die Schuhe sind sehr teuer. Ein Paar Halbschuhe kosten 25 bis 30 Rubel und derselbe Betrag in RM.  Bei den Einkünften, die die Leute haben, ist die Beschaffung von Schuhen fast nicht möglich. Eine Putzfrau bekommt einen Stundenlohn von 8 Pfennig. Dann kann man sich alles andere ausrechnen.  Wenn man auch berücksichtigen muß, daß die Menschen hier nicht so große Lebensbedürfnisse haben und daß sie meist noch Landwirtschaft besitzen, so ist das alles doch soviel wie nichts. Trotzdem, Zeit spielt hier keine Rolle. Was heute nicht erledigt wird, das läßt sich morgen auch noch machen.  Wie ich Dir wohl schon andeutete, scheint es bald hier wegzugehen. Verschiedene Anzeichen deuten daraufhin. Wann und wohin es geht, wissen wir noch nicht, doch sobald es möglich ist, werde ich Dir das schreiben.  Ich hatte Dir das schon von Anfang geschrieben, daß wir hier nicht immer bleiben werden. Ob wir es in Rußland immer wieder so treffen werden, glaube ich kaum . Aber man wird sich dann auch wieder hineinfinden.  An Nannie habe ich heute auch noch geantwortet. An Deinen Vater habe ich einen Brief angefangen, wann ich ihn fertig machen kann, weiß ich noch nicht. An verschiedene Pfarrämter habe ich auch wieder geschrieben und teilweise Geld geschickt. Ich habe dann so ziemlich alles auf dem Laufenden.  Vorher habe ich doch keine große Ruhe, wenn ich weiß, es ist noch etwas zu beantworten.  Dich und die Kinder grüße ich vielmals.  An die Kinder werde ich auch demnächst schreiben, wenn sie sich am letzten Mal auch nicht besonders angestrengt haben. Vor allem Jörg hat nichts weiter dazugeschrieben. Ich denke, daß er es nachholen wird. Ich hoffe, Ihr seid alle gesund. Grüße Vater und Kurt wieder von mir. Du selbst sei aber recht fest und vielmals geküßt von Deinem Ernst.

Mein lieber Schatz !                                                               17.6.42    

Ich hatte heute nicht die Absicht zu schreiben. Aber die tägliche Aussprache mit Dir ist mir zu einer lieben Gewohnheit geworden, daß es mir vorkommt, als könnten mich nur ganz besondere Umstände daran hindern, Dir nicht zu schreiben. Wenn ich auch gestern keinen Brief bekommen habe, so will ich doch wieder einmal von etwas anderem berichten.  Der Arbeitsstil hier im Osten hat ein ganz anderes Aussehen , wie der in der Heimat und auch wie der in Frankreich. In dieser Beziehung habe ich verschiedenes lernen können aber auch müssen. Bedingt durch die schlechten Verkehrsverhältnisse und die großen Strecken, muß man sich hier zur schnellen Erledigung, denn auch hier ist ja alles Alltag, vorwiegend des Telefons bedienen. Das Telefon geht nun hier nicht so wie in Frankreich oder in Deutschland, daß man über weite Strecken telefonieren kann, ohne daß sich Störungen oder sonstige Schwierigkeiten bemerkbar machen. Wir müssen zum großen Teil das alte russische Netz verwenden und die alte russische Vermittlungszentralen. Von Wertarbeit kann da keine Rede sein, denn das ganze Zeug ist klapprig. Aber man ist dauernd damit beschäftigt, Verbesserungen durchzuführen und zu ändern, was unbedingt gemacht werden muß, doch sämtliche Schwierigkeiten lassen sich nicht mit einem Mal beheben. Die Verständigung ist daher teilweise auf kurze Entfernung schlecht und sie kann auf weitere Strecken gut sein. Das russische Telefonnetz hat früher meist nur mit Eisendrähten gearbeitet. Dies ist auch meist die Ursache zur schwierigen Verständigung. Wenn man also mit einem Ferngespräch nicht durchkommt, dann gibt man auch einen „Fernspruch „ auf. Der geht schriftlich an die Vermittlung und die hat dafür zu sorgen, daß die Mitteilung an die zuständige Stelle geht. Durch dieses System kann man sich helfen und man hat die Gewissheit, daß eine Sache dann erledigt wird. Wenn man etwas durchgibt, läßt man sich den Namen des Aufnehmenden sagen, damit später einmal niemand behaupten kann, diese Sache sei nicht erledigt worden. Man gewöhnt sich aber auch an diese Art des Schriftverkehrs, wenn es auch neuartig ist, so sind gewisse Vorteile nicht zu verkennen.  An Deinen Vater habe ich nicht fertiggeschrieben. Ich habe erst einmal keine Maschine weiter gehabt und dann muß ich mir das alles noch einmal überdenken.  Heute Abend ist wieder Kino. Ich bin gespannt, ob es diesmal ohne Hindernisse abgeht. Gespielt soll werden „Das Verlegenheitskind“.  Was das gibt, werde ich mir heute ansehen. Am Samstag ist hier Kameradschaftsabend. Ich bin zwar kein großer Freund davon, aber schließlich muß man um der Kameradschaft willen mitmachen.  Meine Mutmaßung, die ich in meinem gestrigen Schreiben ausgedrückt hatte, daß wir vielleicht hier bald wegkommen, muß ich wahrscheinlich zurückziehen, denn es ist ebenso nicht ausgeschlossen, daß wir noch eine Weile hier bleiben. So geht das beim Kommis. Manchmal muß man auf eine Sache lang warten, die man schon lange vorher erwartet hat, und dann geht es nicht schnell genug, wenn dann tatsächlich der Befehl eintrifft, daß die Veränderung eintritt. Aber auch daran gewöhnt man sich, wie an das viele Andere auch. Heute sende ich Dir und den Kindern viele herzliche Grüße und ebenso viele Küsse. Dein Ernst.

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