Donnerstag, 1. Juni 2017

Brief 268 vom 1.6.1942


Meine liebe Annie !                                                        1.6.42  

Der Monat hat wieder einmal gewechselt. Geändert hat sich zwar nichts weiter, denn die Dinge gehen so und so ihren Lauf. Ich habe das Gefühl, es ist zwar noch von keiner Seite bestätigt worden, daß es hier nicht mehr lange geht und wir weiter rücken.  Ob es sich bestätigt, wird sich ja herausstellen.
Als Du mir in Deinem letzten Brief, der gestern hier eintraf, mitteiltest, daß bei dem Strauß außer dem Flieder noch Tulpen dabei waren, konnte ich mir das genau vorstellen. Mein Kamerad hatte hier auch einen Fliederstrauß bekommen, in dem noch Tulpenknospen gesteckt waren.  Daß Dein Strauß wahrscheinlich schöner gewesen ist, will ich nicht in Abrede stellen, doch auch im Kochgeschirr kann man Blumen auf den Tisch stellen, wenn man genug hat, damit man von der „Vase“ nicht zuviel sieht. 
Der Abfallkorb, der im Vorraum stand, ist nun auch beseitigt. Ich glaube gern, daß jetzt wieder richtig Platz ist und daß es sauberer aussieht. Wenn Dir der Wickenkaste im Wege sein sollte, dann mache ihn nur auch mit weg.  Ich sehe, daß es keinen Zweck hat, soviel Zeug herumstehen zu lassen. Wenn man einmal so etwas anfangen wollte, könnte man ja sich wieder diese Sachen zulegen.
Daß Du mir in erster Linie von Deinen täglichen Arbeiten berichtet hast, ist ja nur erklärlich, denn das ist doch das, was jetzt bei Dir den Tag ausfüllt.  Mir ist darum auch alles nicht langweilig oder gar nüchtern. Ich denke, daß wir uns, obwohl wir doch jetzt schon eine ganze Zeit getrennt voneinander sind, zu gut kennen. Ich weiß genau, was bei Euch los ist und fühle doch aus Deinen Briefen, wie Du für  uns und für mich lebst. 
Was nun Deine Ansicht über die Urlaubsangelegenheit vor meiner Versetzung hierher anbelangt, so will ich Dir folgendes noch mitteilen. Als ich noch in Douai war und man mir sagte, daß ich für einen Tag noch nach hause fahren könnte, lagen die Dinge so, daß man mir einen Schein mitgeben wollte, auf dem vermerkt worden wäre, daß ich mich an dem und dem Tag in Marburg zu melden hätte. Wenn ich zwar vorher gewußt hätte, mit welcher Ungeduld ich dort erwartet worden bin, dann wäre ich eben einen Tag später dort eingetroffen. Wo ich dann aber in Marburg erfuhr und gesehen hatte, mit welchem Tempo man die Dinge dort betrachtet und dann weiterhin, nachdem man mir meinen Antrag wegen eines kurzen Urlaubs nach hause abgelehnt hatte, faßte ich schon in Marburg den Entschluß, in Leipzig zu bleiben, wenn es irgend mit der Zugverbindung ging. Das hat ja dann auch geklappt und wie ich Dir schon mitteilte, war ich auch hier wieder zu zeitig angekommen. Ich hätte also ruhig noch einen weiteren Tag bleiben können, dann hätte sich niemand darum geschert. Die Möglichkeit hatte ich zwar nicht, mit meinem Fahrschein, den ich von Marburg bekam, nach Konstanz zu fahren, denn er lautete nach Krakau, und daß ich dann auf der Bahn Anstände erhalten hätte, entweder schon auf der Hinfahrt oder auf der Weiterfahrt, das ist Dir wohl verständlich. Wenn das Konstanz nicht gerade zu sehr abgelegen sein würde, dann hätte ich das schon gemacht. Es ist also nicht so, daß ich lieber nach Leipzig gefahren bin, sondern es ging einfach nicht anders. Glaube mir, ich hätte gern die Gelegenheit wahrgenommen, Euch vor meiner Reise hierher noch einmal zu sehen. Aber ich nehme an, daß Dir nach meinen Ausführungen die Dinge klarer sein werden. 
Über die gute Obstblüte in unserem Garten habe ich mich auch sehr gefreut, denn ich bin auch wie Du der Ansicht, daß man das sehr brauchen kann. Wie nun die Erdbeeren blühen und tragen werden, vor allem die , die jetzt hinter dem Haus angepflanzt sind, wirst Du ja sehen. Wie die Brombeeren nach dem radikalen Schnitt sich verhalten, würde mich auch interessieren. Ich denke, daß sie bald anfangen zu blühen, wenn mein heutiger Brief bei Dir eintrifft.
Am Ende habe ich wieder einige Wünsche anzubringen. Ich muß Dich jetzt mehr in dieser Beziehung in Anspruch nehmen, wie das bisher der Fall war.  Aber bitte, das will ich gleich von vorneherein wieder betonen, immer mit Maß diese Wünsche erfüllen. Ich glaube, daß ich Fliegenfänger benötige. Schicke mir doch einmal einige mit zu.
Dann wegen der Inspiroltabletten. Wenn Du die nicht bekommst, so hätte ich gern nochmals die Emser Pastillen oder wie sie sich nennen. Die waren auch gut.  Jetzt sendet Dir und den Kindern wieder recht viele herzliche Grüße und Küsse Dein Ernst. 

An Kurt habe ich heute auch noch geschrieben, damit der Junge nicht so lange warten muß. Leite bitte diesen Brief weiter.

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