Montag, 22. Mai 2017

Brief 256 vom 20.5.1942


Meine liebste Annie !                                                        20.5.42     
  
Ein arbeitsreicher Tag war heute einmal. Arbeiterwerbung und Zusammenstellung von Transporten zum Einsatz in die Landwirtschaft in Deutschland. Der Abtransport von 600 Arbeitern aus unserem Gebiet, dem ein gleicher Transport schon vorausgegangen ist und ein weiterer folgen wird, macht bei den schwierigen Eisenbahnverhältnissen schon manche Mühe. Ich hoffe aber, daß es auch klappt wie die anderen Arbeiten bisher auch geklappt haben. Hier kann man oder vielmehr muß man einen großen Teil der Arbeit telefonisch erledigen. Das spart einesteils viel Zeit, denn man kann das schneller durchführen. Aber alles muß man doch noch schriftlich festlegen, damit jeder weiß, was gemacht worden ist. Schreibkräfte sind sehr rar, so daß alles an einem selbst hängen bleibt.  Machen muß man hier alles. So habe ich schon letzthin und heute auch wieder den Wehrmachtsbericht aufnehmen müssen, weil der andere Mann eine andere Arbeit hatte. Ich scheue mich ja vor keiner Arbeit und mache deshalb auch nicht erst viel Gerede wie andere, nur damit sie nicht zuviel zugeteilt bekommen. Mir ist es jedenfalls lieber so, als wenn keine Arbeit vorliegt und der Tag dann kaum herumgeht.
Ich habe mich nur wieder wundern müssen, mit welch armseligen Gepäck die Leute hier fortfahren. Die Bessergestellten hatten einen kleinen Holzkoffer, die anderen kamen gerade mit dem an, was sie auf dem Leib trugen.  Meist nicht einmal Schuhe hatten sie an. Was für ein armseliger Haufen das so ist, kannst Du Dir dann vorstellen. Der Vornehmste hatte ein Paar weiße Schuhe an, einen Fotoapparat, der aus Großvaters Zeiten stammte. Dann hatte er noch einen Handkoffer bei sich, den er mit Bindfaden zusammengebunden hatte, damit er nicht auseinander fiel. Verschiedene Angehörige waren dann mit an den Zug gekommen. Die Leute wurden vorerst in Güterwagen geladen, weil nichts anderes zur Verfügung stand und dann ging es los bis zur nächsten Sammelstelle. Dort werden nochmals alle untersucht.  Als dann alles anfing zu heulen, habe ich mich dann schnellstens verzogen. Die Leute haben doch bei uns in der Landwirtschaft ein besseres Leben wie hier. Sie werden wohl strenger arbeiten müssen, aber sie können doch ein geordneteres Leben führen wie hier.
Als ich gestern Abend in den Kurpark spazieren ging, mußte ich wieder einmal besonders an Dich denken. Da schwirrten am Abend die Maikäfer, daß die Luft nur so brummte. Ich habe einige mit nach hause genommen und einem Kameraden ins Zimmer getan. Er hat sich dann gewundert, wo die Maikäfer herkamen. Als er das Licht anzündete, schwirrten die um die Lampe herum.  Der ganze Park stand bis vor kurzer Zeit noch unter Hochwasser, aber die Viecher sind nicht versoffen. Das waren ihrer so viele, daß man denken konnte, sie sind unter den denkbar günstigsten Bedingungen groß geworden. Aber auch den Ameisen hat das ganze Hochwasser nicht geschadet. Die bauen an ihren Bergen wieder herum, als wenn nichts gewesen wäre. Man staunt nur, wie sich die Natur auch gegen solche Einflüsse wieder schützt. 
Nächste Woche wird unser Oberst wieder auf Fahrt gehen. Ich nehme an, daß er diesmal den anderen Kameraden mitnehmen wird. So herrscht hier bei uns immer und immer wieder Betrieb. Manchmal etwas mehr und dafür ein andermal wieder weniger. Wenn es dann wenig wird, dann fällt einem das noch mehr auf, denn dann bekommt man gleich Langeweile. 
Herzliche Grüße sende ich Dir und den Kindern und ebenso viele Küsse.  Dein Ernst.

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