Sonntag, 16. Juni 2019

Brief 539 vom 01.06.1944



Meine liebe, gute Annie!                  (Datum unklar, aber wohl Anfang Juni 1944)

Mit dem heutigen Tag liegen schon 23 Tage hinter mir, seit ich Dir den ersten Bescheid von hier aus zugehen ließ. Von Deinem Vater habe ich schon zwei Briefe erhalten, auch von Marburg erhielt ich gestern meine angeforderten Bilder zugesandt, obwohl ich dorthin einige Tage später geschrieben hatte. Ich finde keine Erklärung für das lange Ausbleiben Deiner Antwort. Von einem Abend hoffe ich auf den anderen und bis jetzt bin ich leider immer enttäuscht worden. Heute hoffe ich auch wieder auf einen Brief von Dir, ob sich die Hoffnung aber bestätigen wird, das wird sich erst heute Abend herausstellen.
Bei uns sind einige Veränderungen eingetreten. Unser bisheriger Ausbilder, der sich teilweise in einer üblen Form aufgeführt hatte, ist, nachdem er letzte Woche uns in besoffenem Zustand ins Gelände führen wollte, plötzlich von uns versetzt worden. Er hatte sich zu diesem Ausmarsch ein Pferd besorgt und wollte wie ein Offizier vor uns herreiten. Unser Oberleutnant kam rechtzeitig dazu, um diesen Unfug abzustellen. Der Mann, der uns verschiedenes unserer Verpflegung vorenthalten hat, hat damit ein schönes Leben aufgeben müssen. Unser neuer Lehrgangleiter, ein Oberfeldwebel, gibt sich nun richtige Mühe mit uns, nur wie das sich auf die Dauer auswirkt, werden wir ja sehen. Der Dienst ist seither strammer geworden und er nimmt auch den ganzen Mann mehr in Anspruch wie das schon vorher der Fall war. Mit etwas gutem Willen und zwar auch etwas Zusammenreißen wird es schon gehen. Eins ist jedenfalls festzustellen, das ist nicht nur bei mir, sondern auch bei allen anderen Kameraden der Fall, daß die zurückliegenden vier Jahre spürbar werden. Wir sind älter geworden und dieses unstete Leben und alles andere, was damit zusammenhängt, wirkt sich eben doch auf den Körper aus. Ob man nun wieder so elastisch wird, wie man es mit 25 Jahren war, das ist wohl kaum zu glauben. Dieses dauernde Herumtreiben Nacht für Nacht auf den Eisenbahnschienen merkt man selbstverständlich auch. Aber es heißt hier nur, die Zähne zusammenbeißen, denn einmal wird sich dieser Zeitabschnitt hinter uns liegen.
Mein langes Warten ist nun heute mit zwei Briefen von Dir belohnt worden. Es sind Deine beiden Briefe vom 22. und 26.5., der erste war ja reichlich lange unterwegs. Nun weiß ich doch wieder, was daheim während der vergangenen Zeit los war. Ich hatte mir schon Gedanken in jeder Richtung gemacht und konnte keine Erklärung finden, an was das liegen konnte. Zwischendurch fehlen ja noch einige Briefe, aber das ist ja nicht so entscheidend. Der Tag des Anfangs der Invasion findet damit für mich einen schönen Abschluß. Zur Beantwortung der einzelnen Sachen komme ich jetzt nicht mehr, das werde ich mir für morgen aufsparen. Ich grüße Euch recht herzlich. Hoffentlich bringt uns der heutige Tag den Anfang einer entscheidenden Wendung um gegenwärtigen Geschehen. Euch allen einen herzlichen Kuß in Liebe von Deinem Ernst.

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