Sonntag, 2. Juni 2019

Brief 538 vom 31.05.1944


Mein liebstes Mädel!                   31.5.44  /angekommen 9.6.44/10    

Als erstes muß ich wieder den Schwanengesang anstimmen. Es ist noch keine Post von Dir eingegangen. Ich kann mir das nur damit erklären, daß von uns aus die Briefe irgendwie hängenbleiben. Denn der Kamerad, der aus Bregenz ist, hatte zehn Tage auf Post waren müssen, bis er wieder Nachricht von daheim erhielt. Ich gebe aber die Hoffnung und das WArten nicht auf, denn einmal muß es ja doch klappen. Dagegen kam gestern ein Brief Deines VAters an, dem ein Durchschlag eines Schreibens an Dich mit beigefügt war. Mein erstes Schreiben traf danach am 23.  in Leipzig ein. Aus diesem Schreiben habe ich immerhin ersehen, daß Ihr gesund nach unseren gemeinsamen Aufenthalt in Leipzig nach Konstanz gekommen sei. Daß es mit dem Platz für Euch geklappt hatte, war ja recht erfreulich. Der Brief Deines Vaters ist ja in dem üblichen Ton gehalten. Es klingt diesmal nur daraus hervor , daß er an sich froh ist, daß ein gewisser Trennungsstrich , der zwischen uns und ihm stand , etwas verblaßt ist. Er gab ja selbst zu, daß das Verhältnis zu ihr nicht das sein kann, wie es zwischen uns allen bestand, als Deine Mutter noch lebte. Er meinte ja auch, daß ihm in erster Linie daran gelegen ist, daß er versorgt ist. Er behauptete ja, daß dies der Fall sei. Er mußt sich sein Leben so einrichten, wie er es haben will. Das war ja auch früher unser Standpunkt und daran hat sich für uns nicht geändert. Daß wir ohne weiteres einen Pflock zurückgesteckt haben und die Lotte als eine Haushaltsführerin anerkennen, das ist eine Notwendigkeit, die sich im Rahmen dieser Erkenntnis ergibt. Entsprechend ihrer charakterlichen Veranlagung hat sie sich Mühe geben, um uns den Aufenthalt immerhin angenehm zu gestalten. Daß ihr dieser ungewohnte Betrieb am Anfang schwer gefallen ist, ist verständlich. Mit meinem Eintreffen hat sich das ja insofern gebessert, daß es Dir nicht weiter spürbar war. Lachen muß ich im Stillen noch, wie Du gemeutert hattest, als wir Beiden entgegen dem früher gefaßten Plan umquartiert werden sollten. Du hattest Dich, das muß ich mit Anerkennung geststellen, gegen diesen in Deinen Augen teuflischen Pöan mit Erfolg durchgesetzt. Ich hatte zuerst nicht die Absicht erkannt, doch Dich versetzte Ansinnen in einen Zorbn, der in dieser Art lange Jahre in Dir geschlummert hatte und bei dieser Gelegenheit zum Ausbruch kam. Für mich war das ein köstlicher Spaß, Dich in Deiner zu sehen. Meine Anerkennung habe ich Dir ja schon im voraus gegeben. so ist es mit wohl gestattet, daß ich im Hintergrund ein wenig lächle. Oder darf ich das nicht? Trotz all diesen Widerwärtigkeiten bist Du ja zu Deinem Recht gekommen. Deinem Vater habe ich seinen Brief gestern auf Wache gleich erledigt, damit sich nicht erst Postschulden anhäufen. Heute lese ich nun im Wehrmachtsbericht, daß Leipzig angegriffen worden sei. Nun bin ich wieder in Sorge, bis die Eilnachricht hier eintrifft. Daß auch von Siegfried keine Nachricht eintrifft, gibt einem immer Anlaß zur Sorge. Hoffentlich ist alles gut vorübergegangen. Daß es dem Emil von Leimenstolls so schlecht geht, tut mir sehr leid. Dieser Junge ging doch mit solch einer Zuversicht nach Heiligenberg, um die neue Kur anzutreten. _ Meinem heutigen Brief füge ich das Wollgras mit bei, das ich in einem meiner letzten Briefe mit erwähnte. Betrachtet es als einen Gruß an Euch und des Gedenkens der schön verbrachten Stunden während des letzten Urlaubs. _ Bei uns geht an sich alles seinen gewohnten Gang. Ich mußte heute zur Abwechslung mit noch mehreren Kameraden zum Impfen marschieren. Ich habe es diesmal mit Helga gehalten, die ja auch erst kürzlich gegen Pocken geimpft worden ist. Um aber dazu zu kommen, mußten wir erst 12 km marschieren. Das ist mir auch das erste Mal passiert.  Aber das sind nun einmal alles so Kleinigkeiten, um uns zu zeigen, wie klein wir hier geworden sind. Mich selbst kann man mit diesen Sprüchen nicht aus dem Konzept bringen. Ich gehe meinen Weg, wie ich ihn für richtig finde und alles andere kann mich gern haben. _ Haltet mir den Daumen, daß ich nun bald con Euch Nachricht erhalte. Sonst wünsche ich Euch alles Gute. Ich hoffe, daß Ihr gesund seid und gebe Euch in dieser Erwartung jedem einen herzlichen und kräftigen Kuß verbunden mit vielen lieben Grüßen von Deinem Ernst. Meine liebe, gute Annie!                  13                     38 Mit dem heutigen Tag liegen schon 23 Tage hinter mir, seit ich Dir den ersten Bescheid von hier aus zugehen ließ. Von Deinem Vater habe ich schon zwei Briefe erhalten, auch von Marburg erhielt ich gestern meine angeforderten Bilder zugesandt, obwohl ich dorthin einige Tage später geschrieben hatte. Ich finde keine Erklärung für das lange Ausbleiben Deiner Antwort. Von einem Abend hoffe ich auf den anderen und bis jetzt bin ich leider immer enttäuscht worden. Heute hoffe ich auch wieder auf einen Brief von Dir, ob sich die Hoffnung aber bestätigen wird, das wird sich erst heute abend herausstellen. _ Bei uns sind einige Veränderungen eingetreten. Unser bisheriger Ausbilder, der sich teilweise in einer üblen Form aufgeführt hatte, ist, nachdem er letzte Woche uns in besoffenem Zustand ins Gelände führen wollte, plötzlich von uns versetzt worden. Er hatte sich zu diesem Ausmarsch ein Pferd besorgt und wollte wie ein Offizier vor uns herreiten. Unser Oberleutnant kam rechtzeitig dazu, um diesen Unfug abzustellen. Der Mann, der uns verschiedenes unserer VErpflegung vorenthalten hat, hat damit ein schönes Leben aufgeben müssen. Unser neuer Lehrgangleiter, ein Oberfeldwebel, gibt sich nun richtige Mühe mit uns, nur wie das sich auf die Dauer auswirkt, werden wir ja sehen. Der Dienst ist seither strammer geworden und er nimmt auch den ganzen Mann mehr in Anspruch wie das schon vorher der Fall war. Mit etwas gutem Willen und zwar auch etwas Zusammenreißen wird es schon gehen. Eins ist jedenfalls festzustellen, das ist nich nur bei mir, sondern auch bei allen anderen Kameraden der Fall, daß die zurückliegenden vier Jahre spürbar werden. Wir sind älter geworden und dieses unstete Leben und alles andere, was damit zusammenhängt, wirkt sich eben doch auf den Körper aus. Ob man nun wieder so elastisch wird, wie man es mit 25 Jahren war, das ist wohl kaum zu glauben. Dieses dauernde Herumtreiben Nacht für Nacht auf den Eisenbahnschienen merkt man selbstverständlich auch. Aber es heißt hier nur, die Zähne zusammenbeißen, denn einmal wird sich dieser Zeitabschnitt hinter uns liegen. _ Mein langes Warten ist nun heute mit zwei Briefen von Dir belohnt worden. Es sind Deine beiden Briefe vom 22. und 26.5., der erste war ja reichlich lange unterwegs. Nun weiß ich doch wieder, was daheim während der vergangenen Zeit los war. Ich hatte mir schon Gedanken in jeder Richtung gemacht und konnte keine Erklärung finden, an was das liegen konnte. Zwischendurch fehlen ja noch einige Briefe, aber das ist ja nicht so entscheidend. Der Tag des Anfangs der Invasion findet damit für mich einen schönen Abschluß. Zur Beantwortung der einzelnen Sachen komme ich jetzt nicht mehr, das werde ich mir für morgen aufsparen. Ich grüße Euch recht herzlich. Hoffentlich bringt uns der heutige Tag den Anfang einer entscheidenden Wendung um gegenwärtigen Geschehen. Euch allen einen herzlichen Kuß in Liebe von Deinem Ernst.

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