Samstag, 22. September 2018

Brief 455 vom 12./13.09.1943


Meine liebe Annie!                                                                                        12.9.43

 Jetzt kann es ja nicht mehr lange dauern, bis ich von Dir Post erhalte. Ich freue mich schon sehr darauf, denn es ist einem doch erst wieder wohler, wenn man die Verbindung mit zuhause wieder hat. Auf die Dauer gesehen, ist es nicht immer leicht, so tagtäglich aus dem Gedächtnis zu schreiben, ohne daß einem ein Anstoß oder eine Anregung gegeben wird. Ich will Dir nichts vorlamentieren, denn dazu habe ich keine Veranlassung und mir fehlt ja sonst nichts.
Hast Du schon einmal etwas von Balkonhühnern gehört? Das glaube ich nicht. Ich habe sie schon gesehen. Das erste Mal sah ich sie in Charkow. Auf einem Balkon hielten sich die Besitzer der dazugehörigen Wohnung ein Huhn. Damit es ihnen nicht wegfliegt oder nicht vom Balkon herunterfällt, hat man ihnen ein Bindfaden an den Fuß gebunden. Ich habe das nirgends wiedergesehen. Ich dachte, daß diese Erscheinung einmalig sei. Als ich nach Belgrad kam, konnte ich auf den verschiedenen Balkons Balkonhühner wieder sehen. Diese Bezeichnung stammt von mir, ist aber vollkommen zutreffend. Entsprechend dem Aktionsradius des Bindfadens können sich diese Tiere nun bewegen. Futter bekommen sie wohl, aber sonst führen diese Viecher wirklich ein Dasein, daß für diese Tiere bestimmt nicht beneidenswert ist. Das schönste ist, daß sie auch noch Eier legen sollen. Da sieht man aber, auf welche Ideen die Leute verfallen, wenn ihnen die Lebensmittel zugemessen werden. Auf jedem nur freien Platz haben sich die Leute dort Hühner gehalten. Auf dem Platz beim Parlament habe ich Leute beobachtet, die ihre Hühner dort grasen und scharren lassen. Abends kommen sie und packen sie ein. Am anderen Morgen werden sie auf ihre Weide geführt. Es macht schon einen drolligen Eindruck. Aber die ganze Hühnerhaltung führt nun dazu, daß man, wenn man, wie ich, auf die Zeit achten muß und dadurch leicht schläft, daß diese Biester störend wirken. Früh um 4 Uhr kräht der erste und das geht dann solange, bis man aufsteht. Ich kann nicht sagen, daß ich besonders nervös sei, aber wenn man sich noch nicht daran gewöhnt hat, dann kann einem das schon auf die Nerven fallen. Aber nicht nur Hühner, sondern auch für die Ernährung andere nützliche Viecher halten sich die Leute. Im Balkon hat das Schwein wegen seiner Genügsamkeit und seiner Nützlichkeit eine ganz besondere Bedeutung. Jeder der irgendeinen Platz hat und es irgendwie machen kann, der hält sich ein Schwein. Zur Verbesserung seiner Ernährung ist das äußerst wichtig. Leute, die es früher nicht nötig gehabt haben, sich mit der Schweinefütterung zu befassen, widmen sich ihr. So tritt durch die Kriegsverhältnisse manche Änderung ein, an die manche Leute früher nicht gedacht haben.
Heute Nachmittag war ich beim baden. Das war mein Sonntagsvergnügen. Das schöne Sonnenwetter muß man ausnutzen, den der Winter ist dann wieder so lang. Ich hatte mir etwas zu lesen mitgenommen. Am Vormittag hatte ich mir Pflaumen gekauft, um mir den Sonntag auch etwas schmackhaft zu machen. Ich kann ja noch zufrieden sein, daß ich mir das hier so einrichten kann. Was man hier im Winter an solchen Tagen anstellt, das könnte ich mir noch nicht vorstellen. Es bleibt einem dann weiter nichts übrig, als die ganze Zeit zu lesen. Aber dafür ist noch nicht der Zeitpunkt gekommen, daß ich mir darüber Gedanken mache, denn alles zu seiner Zeit.
Hast du das Geld schon an Finnessen nach Posen geschickt? Wenn Dir die Adresse nicht mehr geläufig ist, dann schreibe ich sie Dir hiermit noch auf. Erika Finnessen, Posen, Friedensstraße 19, Wohnung 6. Das Geld mußt Du deshalb an die Frau senden, weil er selbst ja nicht daheim ist und das Geld womöglich wieder zurückkäme. Der Betrag lautet über 15,-RM. Weiteres habe ich heute nicht zu erledigen. Das genügt ja nun auch, was ich wieder von Dir alles verlangt habe. 
Nimm viele liebe Küsse entgegen und sei recht herzlich gegrüßt von Deinem Ernst.

  Mein liebes, gutes Mädel !                                                                         13.9.43 
        
Wenn ich Dir in der Pause, in der für mich keine Briefe ankommen, schreiben will, so muß ich mir jedesmal die Frage vorlegen, von was ich Dir dann eigentlich berichten soll. Recht gleichmäßig wickelt sich für mich das Leben hier ab.  Den Stundenplan ließ ich Dir ja schon zugehen. Mit ziemlicher Gleichmäßigkeit und ohne große Unterbrechung läuft dieses Leben hier nun Tag für Tag ab. Über die Mittagszeit werfe ich mich in die Schwemme, denn das Wetter ist immer noch gleichbleibend schön. Übermäßig ist der Besuch des Bades nicht. Unterhaltsam ist hier, daß verschiedene schwimmfähige Gegenstände sich im Wasser befinden. Unter anderem ist ein großer Holzdeckel von 1 ½ m Durchmesser. Auf den kann man sich legen, der trägt eine höchstens zwei Personen. Wie das nun bei Männern ist, so fängt man meistens gleich an, Unfug zu machen. Liegt man ganz friedlich darauf und lässt sich sonnen, dann kommt nach einiger Zeit einer und versucht, für sich auch noch einen Platz zu ergattern. Lässt man ihn friedlich darauf, und er zeigt sich auch friedlich, dann fängt man schon selbst an, ihn wieder loszubekommen. Bei einiger Gewichtsverlagerung kommt der Friedfertige bestimmt mit dem Kopf unter Wasser. Damit fängt es dann meist an. Es kann aber auch passieren, daß man von hinten ins Wasser gezogen wird. Dann fängt der Kampf eben auch an. Jeder versucht nun, seinen Platz zu behaupten, was sehr abwechslungsreich ist.
Als ich hier mein Gepäck von der Bahn in mein Quartier besorgte, da bekam ich den Fiaker der Kommandantur zugewiesen. Ich fuhr also damit zum Bahnhof. Der Wagen ist bespannt mit zwei Pferden. Dann hat er Gummibereifung. Fährt man nun durch den Ort, dann grüßen die Soldaten und auch die Leute ziehen den Hut. Als ich so das Pferdegetrappel hörte, mußte ich unwillkürlich an meine Kindheit denken. Wenn ich in Dessau zu Besuch war, dann hörten wir abends oft die Kutsche vom Großherzog durch die abendliche Straße fahren. Das Pferdegetrappel und die gummibereiften Räder ließen das immer erkennen. Wir machten uns dann als Kinder den Spaß und klatschten dann mit unseren Händen den Takt auf unseren Schenkeln mit, wenn wir im Bett lagen. Wenn es dann klappte, dann war uns das eine große Freude, kam der andere aus dem Takt, dann wurde er ausgelacht. Dieses Experiment wurde dann aber auch sonst geübt, wenn es uns einfiel. Durch solche Anregungen kommen einem dann die Erinnerungen an diese Dinge wieder.
Von den hiesigen Preisen habe ich schon einmal andeutungsweise geschrieben. Über alle die Länder, über die der Krieg hinweggegangen ist, hat sich das Bild wesentlich geändert gegenüber den Friedensjahren. Meist war es so, daß das Lohnniveau im Verhältnis zu den Preisen entsprechend war. Dadurch, daß die Soldaten Geld mit in das Land bringen und umsetzen, ändert sich das Bild zusehends. Die Soldaten fragen nicht nach dem Geld und geben es aus so wie sie es bekommen. Sie zahlen anstandslos das, was die Leute verlangen, und meistens sagen sie noch dazu, daß es billig sei. Das sind alles Momente, die mit preisbestimmend sind. Selbstverständlich spielt die Bewirtschaftung eine große Rolle und der damit verbundene Schwarzhandel, der diesen Preissteigerungen Tür und tor öffnet. Ich konnte in Belgrad eine Handtasche sehen, die Du hast. Die erste Überraschung erlebte ich, als ich in eine Wirtschaft ging und mir dort einen Wermutwein geben ließ. Ich verlangte die Rechnung und mußte 3,30 RM bezahlen. Ich war froh, daß ich nicht zwei verlangt hatte, denn das ist eine doch zu kostspielige Sache.  Recht schöne Grüße sende ich Dir für heute wieder und bin mit vielen Küssen wie immer Dein Ernst.

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