Sonntag, 6. September 2015

Brief 55 vom 2.9.1940


Meine liebe Frau!                                                                   O.U. den 2.September 1940

Deinen lieben Brief vom 29. habe ich heute erhalten. Ich habe mich, soweit er die „lieben Kollegen“ vom Amt betrifft, sehr darüber geärgert. Ich muß feststellen, daß sich seit dem Weltkrieg auch in dieser Beziehung nichts geändert hat. Die Schlawiner sitzen daheim und wollen dann wieder Krieg am Stammtisch aus führen. Es ist nur zu bedauern, daß diese Herren, die doch auch einmal dabei gewesen sein wollen, so wenig Verständnis für die anderen haben und nur ihre eigenen Taten für vollwertig ansehen. Die können gut ihr Maul verreißen. Die sitzen daheim und haben immerhin sonst ein geregeltes Leben, sie sollten sich nur einmal hierher setzen und die Sache eine Weile wieder mitmachen, dann könnte man sehen, wie sie dann  diesen Krieg beurteilen. Ich denke immerhin, daß ich Gelegenheit haben werde, mit diesen Herrschaften wieder einmal über diese Angelegenheit sprechen zu können. Im Übrigen sollte man denken: Götz von Berlichingen.
Was die Gastfreundschaft der Bevölkerung anbelangt, so kann ich aus meiner eigenen Erfahrung sagen, daß diese nur bedingt ist durch die  gegenwärtigen Verhältnisse und daß uns diese Leute lieber etwas anderes geben würden. Doch darüber zu schreiben ist nicht am Ort. Ich denke, daß ich Dir persönlich diese Sache erklären kann. Auch bzg. der Mädels hat es keinen Zweck, daß ich ein langes Palaver anfange, denn der Zweck wäre dadurch doch nicht erreicht, denn Du hast ja schon einzig durch Deine Antwort den Herren gesagt, was Du darüber denkst. Im Übrigen danke ich Dir für das Vertrauen, das Du mir immer wieder entgegen bringst. Bedauerlich ist aber, daß diese Brüder einfach nicht über die alte Mainlinie hinweg denken können und weiterhin noch das, daß sie die Leute, die sie in ihrem Widerstandswillen stüzten sollten, weil schließlich die Männer nicht daheim sind, den Frauen Anlaß geben, sich schwere Gedanken zu machen. Wenn ich nicht genau wüßte, daß Du ohne diese Gesellschaft besser über alles hinwegkommst, so müßte ich mir tatsächlich Sorge wegen Dir machen. Ich bin froh, daß ich mir jetzt diesen Ärger wieder heruntergeschrieben habe, denn ich bin schon heute den ganzen Nachmittag nicht zu genießen gewesen. Ich glaube, daß Dir dies auch eine gewisse Beruhigung verschafft, wenn ich zwar etwas aggressiv geschrieben habe, doch das richtet sich ja nicht gegen Dich, sondern gegen die anderen.
Was mich geärgert hat, habe ich vorweg genommen und nun will ich Dir von unserer Fahrt nach Gent berichten. Wir sind also am Nachmittag weggefahren. Unverkennbar ist die Grenze festzustellen, denn die Häuser und die Straßen haben gleich ein anderes Bild in Belgien. Das Wetter war ausgezeichnet und die Wagen, es waren insgesamt sieben, fuhren nicht schlecht. Gegen 1/2 4 Uhr kamen wir in Gent an. Schon der erst Eindruck war gut. In den Außenbezirken der Stadt  Grünanlagen, die Häuser sind gepflegter, in den Geschäften sind die Auslagen geordneter und auch die Menschen scheinen schon durch ihre äußere Haltung besser zu sein.
Als wir dann aus unseren Wagen ausgestiegen waren, nutzte jeder die zur Verfügung stehende Zeit auf seine Art. Mit einem Kameraden vom Amt bin ich dann gegangen. Wir haben uns erst einmal die verschiedenen Kirchen, die von einer großen Vergangenheit der Stadt zeugen, angesehen. Wunderbar ist hier die bauliche Entwicklung zu beobachten. Vom romanischen, gotischen Baustil über Renaissance und Barock . Alles ist vertreten, und doch bietet die Stadt ein ziemlich einheitliches Bild, vor allem auch deshalb, weil die neueren Bauten immer noch in der gleichen Art ausgeführt worden sind.
Zuletzt sind wir dann noch in eine Burg gegangen, die durch Ausbesserung des früher Verfallenen einen guten Einblick in den Aufbau der niederdeutschen Burgen und Schlösser gibt. Große Säle und Hallen wechseln mit kleinen Zimmern und Kammern. Steile Aufgänge und finstere Verließe. Es war wirklich sehr interessant. Vor allem auch dann, als man von der Zinne der Burg einen Blick über die Stadt hatte, den ich so leicht nicht vergessen werde.
Ich habe mit einem geliehenen Apparat verschiedene Aufnahmen gemacht, die ich Dir dann nach Fertigstellung zusenden werde. Bis wir  dann die verschiedenen Besichtigungen hinter uns hatten, war es nicht mehr weit bis zum Aufbruch. Wir sind dann noch in ein Cafe gegangen, wo wir einen Kaffee getrunken haben und ein ausgezeichnetes Eis mit Fruchtsalat gegessen haben. 1/2 7 Uhr sind wir dann wieder heimgefahren und gegen 9 Uhr waren wir wieder in Lille.
Unterwegs sind wir dann noch durch Kortrijk / Courtrai gekommen, dessen Marktplatz ebenfalls einen schönen geschlossenen Eindruck hinterlassen hat. Man kann den deutschen Einfluß auf die Bauweise nicht verleugnen, denn man fühlt sich, wenn man dieses Bild sieht, unbedingt in eine deutsche Stadt zurückversetzt. An der Strecke haben wir teilweise noch die Einwirkungen des Krieges beobachten können, doch es war vieles schon aufgeräumt und manches schon  wieder im Bau. An verschiedenen Stellen, besonders am Grenzübergang waren Bunker zu sehen, die aber mehr oder weniger zerstört waren. Ich muß sagen, daß dies einer meiner schönsten Nachmittage war, die ich hier verbracht habe.
Als wir dann hier wieder ausstiegen, konnte ich noch eine weitere Feststellung treffen, wir waren im Bodensee-Alpen-Express gefahren. Es ist dies ein Omnibus aus Friedrichshafen, der bei uns verschiedene Mal vorbeigefahren ist. Damals, wo ich ihn gesehen habe, hätte ich mir nicht träumen lassen, daß der mich einmal durch Flandern fahren würde.
Zu einem Brief an die Eltern bin ich bis heute noch nicht gekommen, ich werde aber zusehen, dies bald zu erledigen.
Im Garten hast du aber wieder fest geschafft, ich muß aus Deinen Schilderungen erkennen, daß Du mit viel Fleiß und Liebe am Garten arbeitest und ich danke Dir auch vielmals dafür.
Gestern war nun der Tag, an dem für uns das 10. Ehejahr angefangen hat. Ich wünsche nur, daß der in meinem Brief, den ich darüber an Dich geschrieben habe, ausgesprochene Wunsch in Erfüllung geht, daß wir in diesem neuen Jahr unserer Arbeit in der gewohnten Weise wieder nachgehen können.
Nun mein liebes Mädel, sei für heute wieder herzlich gegrüßt und geküßt von Deinem Ernst. Helga und Jörg je einen herzlichen Kuß, er braucht nicht mehr zu weinen, wenn er einmal umsonst auf Helga an der Schule gewartet hat.

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