Dienstag, 3. November 2015

Brief 74 vom 01./03.11.1940


Meine liebe Annie!                                                                      O.U., den 1.11.1940                                     

Nun sind wir also in den November reingerutscht. Es vergehen die Tage und Wochen und ehe man es sich versieht, ist wieder ein Monat vorbei. Der vergangene hat ja den Vorzug gehabt, daß ich einige Tage bei Euch sein konnte und darin unterscheidet er sich wesentlich von den voran gegangenen.
Wie ich Dir gestern schon schrieb, war ich mit meinem Kameraden Thomas bei Laureyns eingeladen. Es war ein Essen wieder nach französischer Sitte. Es wurden etwa sechs Vorspeisen gegeben, dann gab es Geflügel und als Nachtisch verschiedenes Obst. Der dazu erforderliche Alkohol hat dann auch nicht gefehlt, so daß sich die Stimmung ganz zwangsläufig entsprechend gehoben hat. Der Laureyns macht sich dann gerne einen Spaß, er ist vergleichsweise in Gesellschaft ein Mann wie Dein Vater, auch gleich so stark wie er. Er ist dann in einem Kostüm erschienen als Dienstmann und hat eine Vorstellung gegeben, die ganz köstlich war. Es war allerdings schon etwas nach Zapfenstreich, als wir nach Hause fuhren. Bei der Dunkelheit zwar keine Kleinigkeit, doch bei meiner Dirigentenkunst klappte es dann schon. Wir sind ja schließlich nicht leichtsinnig und fahren bei solchen Gelegenheiten besonders langsam, vielleicht 10 km, aber immer nach meinem bewährten Grundsatz, lieber langsam gefahren wie schnell gelaufen. Hatte ich Dir schon mitgeteilt, daß wir für unsere Dienststelle bzw. unsere Abteilung noch so einen großen Wagen bekommen haben? Dr. Thomas, mit dem ich ja meistens zusammen bin, führt ihn, wir haben zwar noch einen Fahrer dafür, doch der muß ja meistens Besorgungen machen. Daß ich jetzt fast nicht mehr laufe, dürfte sich verstehen.
Jetzt bin ich nun schon wieder zwei Wochen hier. Wie nur die Zeit vergeht, manchmal scheint es mir zwar länger, das kommt aber daher, daß der vergangene Urlaub verhältnismäßig doch nur eine kurze Unterbrechung der gegenwärtigen Tätigkeit war.
Dein lieber Brief vom 27./28.10 kam heute in meine Hände. Recht herzlichen Dank wieder dafür, mein liebes Mädel. Ich kann mir vorstellen, daß sich die Kinder gefreut haben, als Du ihnen den Vorschlag machtest, mit dem Omnibus den Brief in die Stadt zu bringen. Ich begrüße es außerordentlich, wenn Du dich der Augen der Kinder besonders annimmst. Durch Deine Vorlesungen läßt sich das ja offenbar ganz gut machen. Mit der Reinigung des Küchenofens hast du es ja glücklich getroffen, nachdem es bei Euch jetzt langsam kalt geworden ist.
Ich grüße Euch alle, meine Lieben daheim und hoffe, daß Ihr allesamt gesund seid. Recht herzliche Küsse sende ich Dir, mein Schatz, und bitte Dich, unseren Stromern jedem einen Kuß zu übermitteln. Dein Ernst.


Mein liebes Mädel!                                                                     O.U., den 3.11.1940

 Deinen lieben Brief vom 29.10. habe ich gestern erhalten. Du teilst mir darin mit, daß auch an diesem Tage wieder ein Brief von mir ausgeblieben ist. Ich habe auch in der letzten Woche jeden Tag geschrieben, so daß hier wohl eine Verzögerung durch die Post vorliegen wird.
Ich erfahre aber weiter aus Deinem Brief, daß Du zwei meiner Päckchen erhalten hast. Es sind zwar nicht die, die ich zuerst abgesandt habe, doch hattest Du wenigstens einen Teil meiner Sendungen erhalten. Nochmals zu Deiner Unterrichtung, ich habe bis jetzt insgesamt 8 Päckchen an Dich abgesandt.
Das freut mich, daß Dir die Handschuhe gefallen und passen. Ebenso, daß Du die anderen Artikel auch gebrauchen kannst. Wahrscheinlich wirst Du inzwischen weitere Päckchen erhalten haben. Von der Schokolade werde ich sicher noch welche bekommen können. Du kannst Dir also ab und zu schon ein Stückchen genehmigen. Meine Handschuhe habe ich zur Uniform passend, grau, gekauft. Eine Schirmmütze werde ich mir sicher demnächst kaufen, wenn hier eine eigene Bekleidungsstelle aufgemacht wird.
Deine Frage bezüglich der Brandstelle kann ich Dir dahingehend beantworten, daß wir als Aufsicht für die Stadtbehörde bei Ereignissen dabei sein müssen, die sich innerhalb der Stadt ereignen. So auch da.
Nun sitze ich schon eine ganze Weile und höre dem Wunschkonzert zu und denke, daß auch Ihr daheim am Radio sitzt, so daß wir auch heute wieder im Geiste verbunden sind. Wahrscheinlich wirst Du das gleiche tun und auch schreiben. Es ist ja immer wieder so schön, wenn man sieht, wie auf diese Weise die Heimat an uns denkt.
Heute früh schon beim Hafenkonzert, wenn es dann heißt, wir grüßen alle Soldaten, die im Feindesland sind, so fühlt man sich doch auch mit eingeschlossen in die große Gemeinschaft derer, die durch die Umstände der Ereignisse nicht daheim sein können.
Gestern habe ich meinen Mantel bekommen, den ich mir bestellt hatte. Es ist wirklich etwas schönes und solides, mit dem werde ich aber angeben, wenn ich wieder heimkomme, meinst Du nicht auch? Er kostet 16,50 RM, ich glaubte erst, er würde teurer werden. Wegen den Mänteln für die Kinder hatte ich mich nochmals erkundigt, doch die Leute können jetzt nicht nach Paris, so daß es sich noch etwas hinauszögern wird. Doch sind mir diese Sachen fest zugesagt worden.
Eine hier bis jetzt nicht gekannte Erscheinung macht sich seit dieser Woche geltend. Als ich gestern zum Mittagessen wo anders war, stand hinter verschiedenen Gerichten "avec ticket"  (mit Marken). Ticket ist jetzt ein Wort, das jetzt die Bevölkerung bewegt. Seit dieser Woche sind hier Marken eingeführt worden.
Bei uns daheim ist dieser Zustand so langsam eine Lebensgewohnheit geworden. Hier hat es mich aber doch belustigt, wie so die verschiedenen Gäste ihre Marken raus zogen und herausschnitten, was sie verzehrt hatten. Vor Wochen hatte es noch keiner geglaubt, nun hat es sich doch durchgesetzt. Wir bekommen ja auch welche zugewiesen, wenn wir von der Verpflegung abgesetzt sind.
Das Wetter war bisher hier immer noch zum aushalten und ich war ganz verwundert, wie bei Euch immer Regen und Nebel herrscht. Doch heute hängen die Wolken ganz tief und jagen nur so vorbei, dazu regnet es, was nur herunter will. Da ist es nur gut, daß man eine Bude hat, in der man sich auch einmal aufhalten kann.
Wie ich schon vorher schrieb, ist es schön, wenn man einen Radioapparat hat und das übrige gestaltet man sich so angenehm, wie es sich hier ermöglichen läßt. Ich habe mir eben ein Gläschen Wein genehmigt und auch von den Äpfeln, die ich mir mitgenommen hatte, habe ich gegessen. Auch so geht die Zeit rum.
Heute früh hatte ich ja mein schon zur Tradition gewordenes Bad genommen. Ich finde es immer belustigend, wenn dann alle im Dampfraum sitzen, man kann dann nicht mehr unterscheiden, zu welcher Nation der einzelne gehört und jeder achtet auf den anderen. Ab und zu hört man einmal einen kräftigen bayrischen Spruch, doch auch sächsisch ist vertreten. Vor einem Jahr hätte man das doch kaum gedacht. Auch ich hätte mir vor einem Jahr nicht träumen lassen, als wir so am Radio saßen, daß ich heute in einem Haus in dieser Stadt Briefe an Dich schreibe. Wie schnell sich doch die Zeiten und die Verhältnisse ändern.
Ich möchte nun wieder zum Ende kommen und Euch allen meinen herzlichsten Sonntagsgruß senden.
Ich küsse Euch alle und Dich besonders herzlich Dein Ernst.

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