Samstag, 25. Juli 2020

Brief 626 vom 27.4.45


Du mein über alles geliebter Schatz, meine gute Frau !                                                           27.4.45   
Abgesandt 15.1.46 angekommen 26.1.46

Als ich den letzten Brief an Dich abgehen ließ, da standen wir zwar schon in Erwartung der Dinge, von denen man im Unterbewußten sagen konnte, wie sie kommen würden.
Das Schicksal hat sich leider auch so erfüllt, wie es die trüben Voraussehungen uns erscheinen ließen. Alles hat einen Verlauf genommen, wie wir ihn uns am Anfang dieses harten schweren Ringens nicht hatten träumen lassen. Aber wenn wir auch noch so mit dem Schicksal hadern wollten, wir ändern nichts mehr an den Tatsachen. Das, was mich die ganzen langen Jahre des Krieges aufrecht erhalten hat, das ist es auch, das mich davon abhielt, all dem ein Ende zu setzen, was nun weiter über uns hereinbrechen wird. Ich habe immer noch den Hoffnungsschimmer, doch einmal zu Euch, meine Lieben, zurückkehren zu dürfen. Dies wird mir, bei dem ungewissen, was mir ab heute bevorsteht, immer Trost in unserem Schmerz sein. Was nun noch an Nachrichten in Deine Hände gekommen ist, das weiß ich nicht. Ich will darum ganz kurz zusammenfassend berichten, was sich an wichtigen Dingen ereignet hat.
Ich kam zur Marscheinheit von der Kaserne in die Brendser Schule. Dort stellte ich die Frage, wie es sich mit meinem früheren Beamtenverhältnis gestaltet. Nach Rücksprache mit dem Bataillon wurde mir erklärt, daß ich Reserveoffiziersbewerber werden müßte, und daß eine Versetzung zu einer anderen Kompanie in die Kaserne notwendig würde.
Das Einrücken unserer Feinde brachte nun manche Verwirrung in den gesamten Verwaltungsapparat, und man hatte wenig Sinn für diese Dinge. Für mich trat nur das eine in Erscheinung, daß ich von dieser Marscheinheit wegkam und damit einem schnellen Zugriff entzogen war. Den Ablauf der Kampfhandlungen in dem Raum von Leipzig erfuhrst Du ja zu einem Teil aus den Nachrichten, die die Zeitungen brachten. Wie sich alles im Einzelnen abgespielt hat hier zu schildern, das ist wohl für den Moment überflüssig. Wesentlich hervorgehoben zu werden, erscheint mir, daß ich Dir sage, daß man hier alles hin und hergezogen hat, und daß einem alles so vorkam, als würde irgendwie Verrat getrieben. Andererseits drohte man mit den schlimmsten Strafen. Es war eine Stimmung allgemein spürbar, die erkennen ließ, daß man sich verraten und verkauft vorkam. Schließlich wurden wir zu kleinen Einheiten auseinandergezogen, und die Einheit, zu der ich kam, erhielt die Aufgabe, zur Verteidigung von Leipzig mit eingesetzt zu werden. Ein Unterfangen, das einem von Anfang an sinnlos vorkam, weil von außen her keine Vorbereitungen für einen solchen Fall getroffen waren. Ausrüstungen und Waffen waren im Vergleich zu dem, was uns von Feindesseite entgegengestellt werden würde, derart mangelhaft, daß einem der Widerspruch zwischen Maßnahmen und Handlung immer klarer vor Augen kam.
Daß die Bevölkerung selbst eine fast bedrohliche Haltung einnahm, das will ich nur so nebenbei mit bemerken.
Wir bekamen dann eine Stellung in Seehausen zugewiesen, die zwischen Mockau und Tekla liegt. Dort haben wir uns dann so schlecht und recht eine Stellung gebaut, doch für eine Verteidigung der Stadt Leipzig konnte dies nie und nimmer von entscheidender Bedeutung sein. Schließlich ist man ja Soldat und man erfüllt seine Pflicht so, wie es schlechterdings von einem verlangt werden kann. Die Widersprüche, die von außen her auf alle einwirkten, die kamen dann auch insoweit auf die Kameraden zur Auswirkung, daß sich jeder sagte, wir stehen hier auf einem Posten, die von einer bestimmten Seite die Selbstaufopferung verlangt, aber die selbst nicht bereit ist, dieses persönliche Opfer zu bringen.
Am 19. war dann alles soweit, daß wir unsere Stellung auf unserem Stützpunkt kampflos verließen. um bei einem Einsatz in der Stadt mitzuwirken. Als wir uns in der Mitte der Stadt befanden, fing von allen Seiten die Schießerei an. Ich denke, daß ich mich die ganzen Jahre hindurch nicht als Feigling benommen habe, und ich hätte bestimmt den Mut besessen, in einem ehrlichen Kampf ein Ende zu finden.  Aber wie ich Dir schon kurz andeuten konnte, hat hier alles einen derartigen Verlauf genommen, daß einem alles widersinnig erschien.
Kurz und gut, durch eigenartige Umstände kam ich von der Truppe ab. Einige Hausbewohner nahmen mich erst einmal auf, doch bald kam denen die Angst, daß irgendwelche Vergeltungen an ihnen geübt würden, weil sich in ihrem Haus ein Landser aufhielt, und es kam sogar soweit, daß wir uns entfernen mußten, weil von Seiten der Hausbewohner die Polizei angerufen worden war, daß wir uns dort aufhielten.
Das hatte mir einen solchen Stoß gegeben, daß ich hätte schier verzweifeln können am deutschen Menschen. Denn all die vergangenen Jahre hat man sich in aller Welt in Dreck und Unbill herumtreiben lassen, und dafür bekam man nun diesen Eselstritt. Ich wandte mich dann nach Mockau zu Deinem Vater. Dort wurde ich anfänglich erst gut aufgenommen, aber Lotte befand sich in Bezug auf ihre eigene Person in einer solchen Auflösung, daß ich schon Bedenken bekam.  Doch mein Entschluß, weiter zu ziehen wurde dann ohne weiteres erleichtert, als sich nach Deines Vaters Reden die Hausgenossen darüber unterhielten, daß sich Landser im Haus aufhielten, und daß sie das auf keinen Fall zulassen könnten. Die Flucht mußte ich darum fortsetzen, denn die Fortgänge der Ereignisse in der dortigen Gegend ließ ein weiteres Aufschieben kaum zu. Wir gingen in Richtung auf den Park von Abtnauendorf. Dort trafen wir noch auf eine größere Einheit, die anscheinend aber auch nicht mehr gewillt war, sich in ernsthafte Kampfhandlungen einzulassen. Es erschien uns aber geraten, trotz allem Abstand zu halten nach all dem, was schon hinter uns lag.
Wir verzogen uns in eine Gartenlaube, und dort nächtigten wir auch zunächst. Am folgenden Tag ging ich dann nochmals in die Wohnung Deines Vaters, um zu hören, was sich alles zugetragen hat. Überall hingen weiße Fahnen aus den Fenstern. Dein Vater war teils erschüttert, aber ich weiß nicht, ich vermißte doch die persönliche Anteilnahme. Die fremde Frau hat eben doch einen solchen ungünstigen Einfluß auf ihn, daß eine Bindung, wie sie zu Lebzeiten Deiner lieben Mutter bestand, nicht mehr oder kaum noch zu spüren ist. Ich bekam dann schließlich von ihm eine Zivilhose und eine Mütze. Von anderer Seite erhielt ich noch eine Jacke, so daß ich erst einmal die Schale wechseln konnte. 
Nachdem ich erkannt hatte, daß ein Verbleiben dort für mich nicht gerade zweckmäßig sei, weil ich doch nicht gern gesehen bin, erschien es mir ratsam, mich an Erna und an Kühns zu wenden in der Hoffnung, daß ich wahrscheinlich von dort aus ein Weiterkommen finden würde, weil ich erst einmal eine Abklärung der Dinge abwarten wollte. Als ich dort ankam, fand ich für alles ein solches Verständnis, daß ich wirklich gerührt war über derart viel Anteilnahme. Siegfried war ja inzwischen wieder abgerückt, und Erna hatte sich bei Kühns eingerichtet. Verpflegung stand mir ja von keiner Seite mehr zur Verfügung, doch ohne viel Aufhebens wurde ich dort aufgenommen. Da die Wohnverhältnisse aber doch ziemlich knapp sind, reifte in mir der Entschluß, mich bei Leglers umzutun, ob ich dort erstens etwas anderes anzuziehen bekommen kann.
Am folgenden Tag ging ich nun zu Elsa Legler und fand hier das gleiche freundschaftliche Verständnis, wie bei Kühns. Nach all dem, was mir vorher begegnet war, tat einem das in diesem Zusammenbruch so wohl, daß es noch treue Freunde gibt. Sie bat mich dann auch, Unterkommen bei ihr zu nehmen, was ich mir erst vorbehielt, weil ich mich doch erst noch mit Erna besprechen wollte. Unter Berücksichtigung der Verhältnisse hielt auch sie es für ratsam, daß ich mein Exil bei Leglers aufschlagen soll. Wie vorbehaltlos ich hier nun aufgenommen wurde, das war wirklich rührend, und wird mich wohl zur dauernden Dankbarkeit verpflichten. Sie hat mir von dem, was ihnen für ihre Ernährung zur Verfügung stand, gegeben, wie wenn ich meinen Anteil dazu beigetragen hätte.
Mein Einwand, daß ich das nicht annehmen könnte, weil ich ja keine Möglichkeit sehe, ihr das in irgendeiner Form ersetzen zu können, wies sie zurück mit dem Bemerken, daß wir schon durchkommen würden. Man sieht aus allem daß einem gute Freunde eher helfen als die nächsten Verwandten. Von Erna abgesehen.  Alice konnte ich schlecht aufsuchen, weil ja dort alles überbelegt war, und Onkel Krall hat durch den Eintritt dieses Zusammenbrechens innerlich so viel gelitten, daß sein Widerstand und sein Lebenswille gebrochen war. Am 23. ist er, bei vollem  Bewußtsein, und wie mir Tante Agnes bei ihrem Besuch hier mitteilte, mit seinen Gedanken an Siegfried und an mich gestorben.
Gestern ist er beerdigt worden. Alice und Tante Agnes kamen nun gestern zu mir.
Ich konnte mein Beileid ausdrücken. Aus Leglers Garten konnte ich einen Blumenstrauß hinüberschicken lassen. Das letzte Geleit hätte ich ihm gerne gegeben, aber ich bin doch ein Gefangener. Alice und Tante Agnes hatten sich in so lieber Weise meiner erinnert. Sie brachten mir zu Essen mit. Bei solchen Beweisen des Gedenkens und der Liebe könnte einem direkt das Herz aufgehen. Ich war insoweit froh, daß ich doch bei Elsa Legler einen kleinen Teil der Schuld abtragen konnte.  Alice und Tante Agnes letztere in sehr mütterlicher Weise, baten mich nun mit Rücksicht auf Euch, Ihr Lieben, daß ich mich den Behörden stellen solle. Sie hatten Ankündigungen eingezogen über den mutmaßlichen Verlauf, was mit einem geschieht. Ich habe mich nun auch zu diesem Entschluß durchgerungen und will mich heute Nachmittag melden.
Was mit uns nun passiert, das weiß ich noch nicht. Ob wir nun weggeschafft werden oder was vorgenommen wird, das ist mir unklar. Ich muß aber etwas tun, sonst zerre ich an meinen Nerven doch mehr, als ich durch ein weiteres  Erbleiben in dem hier gewiß sehr netten Kreis gutmache. Ob und wann Dir dieser Brief jemals zugeleitet werden kann, das weiß ich nicht. Dir soll dies ein Gruß und gleichzeitig eine Rechtfertigung sein über das, was sich nun alles in meiner Umgebung zugetragen hat. Meine Gedanken gelten immer Dir und den Kindern. Wie wird sich alles bei Euch abgewickelt haben? Mein Wunsch wäre, daß Siegfried vielleicht bei Dir gelandet ist und Dir während  der Ereignisse eine Stütze war. Ob sich dieser Wunsch nun erfüllt hat, das hängt nun im Dunkel.
Hoffentlich seid Ihr aus allem erst einmal gesund herausgekommen.  Wie Ihr nun unter der Besatzung lebt und was sich unter ihr zuträgt, das kann ich von hier aus leider nicht erkennen. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sich die Franzosen breitgemacht.
Gern würde ich Euch schützen, aber ein Herauskommen ist ja nicht möglich. Alles, was nun Euch und Euer persönliches Wohlergehen betrifft, das macht mir Gedanken.
Jetzt, wo Ihr mich braucht, jetzt muß ich fern von Dir und den Kindern sein. Daß Du alles allein ausfechten mußt, das tut mir so unendlich weh. 
Wie ich schon sagte, wann wir uns wiedersehen können, das steht im Dunkel. Wie Du mit allem verfahren sollst, das weißt Du ja im Wesentlichen aus meinen früheren Schreiben. Ich hoffe aber auch, daß die Kinder ihrem Mutterle in dieser Notzeit eine Stütze sein werden, damit Ihr alles besser überstehen könnt. Sobald sich nur irgendeine Möglichkeit bietet, daß ich mich zu Euch durchschlagen kann, dann bin ich auf dem Wege zu Euch, des kannst du versichert sein. Ich hoffe nur, wenn mir das Glück vergönnt ist, daß ich Euch alle gesund antreffe. Wenn wir zusammen sind, werden wir schon einen Weg wieder finden, der uns weiterführt. Sollte ich lange von Euch fort sein müssen, dann behaltet mich in Treuem Andenken, wie ich es stets tun werde. Ring und Uhr lasse ich hier zurück. Ich will nicht haben, daß man mir dies abnimmt, und daß diese Dinge in Hände fallen, die darauf kein Anrecht haben. Ich könnte dies nur in verbissener Wut hinnehmen.
Darum möchte ich gleich einer solchen Maßnahme von vornherein aus dem Weg gehen.
Sollte dieses Unterpfand unserer Verbundenheit eher bei Dir sein als ich, dann denke daran, daß ich eines Tages mir dies holen werde. Bis dahin widmet mir Eure Gedanken.
All mein Sinnen und Trachten gilt immer und ewig nur Dir und den Kindern. Haltet treu zusammen, ich bin im Geiste jederzeit bei Euch. Ich hoffe, daß ich dann später Euer Vaterle sein kann, wie ich es bei unserem Zusammensein stets habe sein dürfen.
Bleibt tapfer und aufrecht und vergeßt nicht, daß ich immer bei Euch weile. Wenn auch alles jetzt schwer ist, ich hoffe es für Euch ertragen zu können. Darum laßt Euch noch einmal umarmen und recht herzlich küssen. Meine innigen Grüße gelten Euch Dreien und auch Vater. Wir wollen uns von der Not nicht niederdrücken lassen.
Trotz allem bin ich nicht ganz mutlos und bleibe stets Euer treues Vaterle und stets

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