Du mein liebster Schatz ! 2.4.45
Daß ich eine solche Osterüberraschung gestern noch erleben würde, das
hätte ich mir bestimmt nicht träumen lassen, als wir hier nach Leipzig
herüberrückten. Ich hatte an alles eher geglaubt, als daß ich daran gedacht
hätte, daß Siegfried es mit seinem Urlaub noch schaffen würde. Es hat mich
jedenfalls aufrichtig gefreut, als ich ihn gestern Abend noch, wenn auch etwas
verspätet, begrüßen konnte. Ich teilte Dir ja gestern in meinem Brief mit, daß wir zur Feldbestellung reif geworden sind. Wir hatten nun hier den ganzen Tag Zirkus. Raustreten und Antreten und Sachenfassen und Papiere in Ordnung bringen und Schießen usw. usw. Zu guter Letzt habe ich dann doch ein Dienstende, aber unsere Soldbücher waren noch nicht fertig gestellt, weil sie vorbereitet werden mußten. An ein Ausgehen ohne Soldbuch ist schlecht zu denken, wenn man keine Schwierigkeiten haben will. Unter vielen Schwierigkeiten ist es mir dann doch gelungen, nachdem ich erst noch den Hauptmann habe darum angehen müssen, eine Bescheinigung zu erlangen, die mir das Ausgehen ermöglichte. Ich bin dann gleich in die Stadt gefahren, weil ich annahm, daß die Wohngemeinschaft zwischen Erna und Papa mit Lotte noch besteht. Als ich hinkam, war außer der Familie Weiß niemand da, die mich ja inzwischen kennengelernt hatte, und bei der ich mich dann bis zur Ankunft von Siegfried und Erna aufhielt. Das Fräulein sagte mir dann bei meiner Vorsprache, daß Herr Michel da sei. Ich sagte daraufhin, daß ich das wüßte, war aber in dem Glauben, daß damit Papa gemeint sei. Erst im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, daß es sich um Siegfried handelte. Als ich das erfuhr, wurde ich schon etwas unruhiger Meine Geduld wurde aber insofern auf eine Probe gestellt, als die ganze Familie erst gegen 9 Uhr von Alice zurückkam. Wir fanden dann aber immer noch Gelegenheit, uns bis nach 11 Uhr etwas auszusprechen, denn vor Mitternacht mußte ich wieder in der Kaserne sein. Von Erna wurde ich, wie ich das nicht anders von ihr kennengelernt hatte, gastlich aufgenommen. Das heißt, sie hat das getan, was in ihren Kräften stand.
Ich freute mich, daß ich Gelegenheit hatte, ihr gestern mehr als 5 Pfund Mehl auszuhändigen, die ich gegen Tausch von einigen Zigaretten von einem Kameraden erhalten hatte. Da ich wiederholt bei ihr gegessen hatte, habe ich das als kleine Entschädigung betrachtet.
Erst hatte ich die Absicht, diese Marken Dir zu schicken, aber das ist gegenwärtig so eine unsichere Sache, ganz abgesehen davon, daß diese Marken im Laufe dieser Woche verfallen. Ich denke, daß Du dafür Verständnis haben wirst, wenn ich auch genau weiß, daß Dir damit sicherlich wieder etwas geholfen worden wäre. Siegfried erwähnte im Laufe unseres Gesprächs, daß er, wenn er wieder zurückfährt, versuchen will, bei Euch vorbeizukommen, und daß er auf der Herreise schon in Lindau gewesen sei. Wenn ihm das gelingt, dann bitte ich Dich, daß Du ihm von den Zigaretten immerhin soviel mitgibst, daß er auf der Rückfahrt keinen Mangel hat. Auch von unseren Schnäpsen setze ihm etwas vor. Aber das bedarf ja groß keiner weiteren Anweisung, denn ich weiß, daß Du ihm auch das tun wirst, was in Deinen Kräften steht.
Bei meinem Besuch erhielt ich auch Dein Schreiben vom 13.3. Nummer 20 ausgehändigt, das mich zu allem hin noch recht erfreut hat. Was Deine Frage anlangt wegen unseres Jungen, ob ich es ratsam hielte, wenn Du mit ihm wegen des Bettnässens zum Arzt gingst so wäre das schon zu erwägen. Schließlich könnte er doch einen Rat geben. Wenn es einem unsinnig erscheint, dann kann man ihn befolgen oder auch man kann es bleiben lassen. Wenn inzwischen keine Besserung eingetreten ist, dann fasse das nur ruhig einmal ins Auge. Über eins habe ich mir gerade gestern Gedanken gemacht. Es war von einem Aufruf der deutschen Volkserhebung im Westen die Rede. Ich bitte Dich, soweit für Dich keine Veranlassung vorliegt, Dich an solchen Schießereien nicht zu beteiligen, weil ich der Ansicht bin, daß das eine Angelegenheit der Männer, aber nicht der Frauen und Kinder ist. Ob Dich dieser Brief noch erreichen wird, kann ich ja nicht sagen, denn die Entwicklung nimmt jetzt einen derartig schnellen Verlauf, daß man sich nicht mehr traut, länger als bis morgen in die Zukunft zu sehen. Haltet Euch nur immer, wie Ihr es Eurer Würde gegenüber vertreten könnt, seid aber auch dessen eingedenk, daß wir noch immer da sind. Heute werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach in die Brendiser Schule marschieren, um dort über die weiteren Dinge zu beraten.
Warten und Warten und immer wieder Warten, das ist eben mit das oberste Gesetz beim Barras, an das wir uns in den langen Jahren gewöhnt haben.
Ich hoffe aber, daß wir heute Ausgang bekommen, und daß ich dann Alice besuchen kann, weil das ja in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule liegt. Siegfried hat mich gebeten, bei Kurt Kühn vorbeizukommen, wo sich heute die ganze Familie aufhalten wird. Kühn ist auch zufällig anwesend, so daß sich das für Beide ganz gut trifft. Es wird sich für mich sicherlich noch Gelegenheit finden, daß ich nach Mockau hinauskomme, wann und wie, das weiß ich heute noch nicht. Zu berichten wäre, daß Papa und Lotte gestern in der Nordstraße Abschied genommen haben und wieder in ihre Wohnung zurückgegangen sind, weil ihnen sonst die Wohnung abgesprochen worden wäre. Das wäre so das, was sich hier an Neuigkeiten erzählen läßt. Bis morgen, denn da hoffe ich wieder schreiben zu können.
Ich grüße dich und die Kinder immer und immer wieder recht herzlich, wie ich Euch im Geiste auch herzlich umarme und Euch jedem einen herzlichen und lieben Kuß aufdrücke.
Ich bin und bleibe immer Euer Vaterle und Dein Ernst.
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